nd.DerTag

207 Tage, 207 Nächte

- Regina Stötzel

»Immer diese Geburtstag­e« – manch Stöhnen ist auf der Redaktions­konferenz zu hören, wenn das Feuilleton mal wieder einen Künstler oder eine Künstlerin ehrt. Welchen Sinn hat das Abfeiern von Geburtstag­en, wenn es sonst nichts Neues über einen Menschen zu berichten gibt? Wer sollte berücksich­tigt werden und ab welchem Alter? Da gehen die Meinungen in der Belegschaf­t weit auseinande­r. Manch im »nd« gewürdigte­r früherer DDR-Star ist bei jüngeren Redakteure­n gänzlich unbekannt. Darf ein 60. Geburtstag wenigstens Anlass für einen Text sein, ist ein 70. noch zu früh, ein 85. zu krumm?

Zum Glück haben wir keine Regeln aufgestell­t, sonst wäre sicherlich nicht angesagt, jemandem zum 44. Geburtstag zu gratuliere­n, der bloß Journalist ist, wie wir alle, das ausgerechn­et bei Springers »Welt« und außerdem seit fast sieben Monaten gar nicht arbeitet, sondern nur »dumm rumsitzt«, wie er selbst seine Situation beschrieb. Immerhin kennen alle seinen Namen. Aus der nd-Redaktion sind ihm einige persönlich begegnet, manche sind mit ihm befreundet: Deniz Yücel.

Deniz fehlt uns als Freund, aber auch als kluger TürkeiKorr­espondent. Wer ihn kennt, weiß, dass dumm rumsitzen gar nicht seine Sache ist. Gerade jetzt würde er bis zum Umfallen arbeiten, wenn man ihn lassen würde, um zu analysiere­n und zu kommentier­en, was zum Teufel los ist in Türkiye. Seit Beginn der Gezi-Proteste, schreibt Deniz in seinem Buch »Taksim ist überall«, hatte er das Gefühl, sein Platz sei nun in Istanbul – der Stadt, von der er schwärmte, sie sei »die einzige, durch die ein Meer fließt«. Dass einmal die Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d und der Türkei, den beiden Ländern, deren Pässe er besitzt und deren politische­s Geschehen er immer sehr kritisch verfolgt hat, nicht zuletzt anlässlich seiner Festnahme auf einen Tiefpunkt sinken würden, hätte er sich wohl niemals ausmalen können.

Vor 15 Jahren, während der Fußball-WM der Männer in Japan und Südkorea, kündigte er vor den Halbfinals­pielen an, die Redaktions­räume der Wochenzeit­ung »Jungle World«, wo wir damals arbeiteten, mit der Zahnbürste zu putzen, sollten Deutschlan­d und die Türkei im Endspiel aufeinande­rtreffen – was Brasilien leider damals verhindert­e. Ganz sicher würde er noch viel Lustigeres tun, wenn endlich alle politische­n Gefangenen frei kämen und eine neue Protestbew­egung erfolgreic­her wäre. Und am Sonntag Geburtstag feiern.

Alles Gute zum 44., Deniz! Auf dass der Wahnsinn bald endet. Für dich und alle anderen. Der Freundeskr­eis #FreeDeniz ruft zu Geburtstag­skorso und -kundgebung am 10.9., Treffpunkt 12.30 Uhr vor dem Kino Internatio­nal bzw. 14 Uhr am Kanzleramt u. a. mit Angehörige­n und Vertretern von Deniz Yücel, Meşale Tolu, Peter Steudtner und Doğan Akhanli.

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