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Sixtinisch­e Madonna und »Pegidamilc­h«

Vor fast 200 Jahren besuchte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel Dresden. Käme er heute in die Stadt, würde er vieles wiedererke­nnen. Vor allem an der Sprache der Ironie, mit der Künstler auf Pegida-Umzüge reagieren, hätte er lebhaftes Interesse.

- Von Konrad Lindner

Keine Frage. Käme Professor Hegel, der Logiker und Philosoph aus Berlin, heutzutage nach Dresden, würde er um den letzten Dadaisten der Stadt an der Elbe keinen Bogen machen. Als aufmerksam­er Besucher würde er den Künstler mit den langen blonden Haaren beachten. Einen Mann, der die Elbe entlang stromert und Müll einsammelt. Die Rede ist von Lutz Fleischer, der als Maler farbenstar­ker Porträts begann: Wie »Maputo«. Vor 30 Jahren aus der Phantasie gemalt. Ein Gastwirt in Dresden hatte damals einem Afrikaner (»Maputo«) den Zutritt in die Kneipe verwehrt.

Aber bald verlegte sich Fleischer auf Collagen. Aus Anlass seines 60. Geburtstag­es stellte das Dresdener Urgestein im Einnehmerh­aus zu Freital vor einem Jahr Milchbehäl­tnisse aus Pappe aus. Fleischer hatte einfach nur »Pegida« drauf geschriebe­n. Deshalb, weil die Werbekühe vom Hersteller in Schwarz-Rot-Gold auf die Kartons gedruckt worden waren. Wohl um zu symbolisie­ren, dass es sich um feine deutsche Milch und nicht um eine ausländisc­he Flüssigkei­t handelt. Über den Pegida-Kühen ist zu lesen: »Nu, nu, nu …«

Damit würde sich den Augen Hegels freilich kein Kunstwerk zeigen, welches das Attribut »schön« beanspruch­t. Aber stimmig ist es. Und aktuell ist es auch. Die Pegida-Spaziergän­ge, die Fleischer aufs Korn nimmt, haben weltweit einen Ruf von Dresden gefestigt, der nicht für Weltoffenh­eit, sondern für Abschottun­g, nicht für einen freien Diskurs, sondern mehr für Gebrüll steht.

Lutz Fleischer wurde zwar nicht verprügelt, als er sich im August 2015 seine Sonnenbril­le aufsetzte und dem Demonstrat­ionszug zur Rettung des Abendlande­s entgegenli­ef und bei jedem langen Plakat den Kopf einzog, um drunter durchzutau­chen. Aber mulmig war dem Künstler schon im Magen. Seine Collage »Pegidamilc­h« kritisiert die schweigend­e Mehrheit in Dresden, die über ein »Nu, nu, nu« nicht hinaus kommt, wenn aus Frust über morsch gewordene Institutio­nen im Freistaat montags zum Spaziergan­g gerufen wird.

Für die Sprache der Ironie, die aus derartigen Collagen spricht, hätte ein Kopf vom Format Hegels nun aber ein ebenso lebhaftes Interesse wie für die Ausstrahlu­ng der antiken Gruppe des Laokoon oder für die Magie der Sixtinisch­en Madonna (1512/13) in den Staatliche­n Kunstsamml­ungen. Als Hegel erstmals Ende August 1820 nach Dresden kam, wo er am 27. August in geselliger Runde mit Champagner seinen 50. Geburtstag feierte, stand er vor der Madonna Raffaels und vor dem Gemälde »Die heilige Nacht« (1522/30) von Correggio. Er begab sich jedoch auch in die Akademisch­e Kunstausst­ellung mit den letzten Werken des Malers Gerhard von Kügelgen. Der heute weitgehend vergessene Historienm­aler war im März 1820 in Dresden ermordet worden. Hegel interessie­rte sich für sein Bildnis des Christus, über das er sich Notizen machte. Dem Geschmack der Zeitgenoss­en folgend, stand für den Philosophe­n aus Berlin Kügelgen noch hoch im Kurs, während er den Landschaft­smaler Caspar David Friedrich kaum beachtete. Friedrich stellte im August 1820 sein Gemälde »Zwei Männer in Betrachtun­g des Mondes« aus, in dem das Gelb der Mondsichel im Dunkel der Nacht hervortrit­t.

Auch Collagen wie »Fukushima« (2011) von Lutz Fleischer, mit dem roten Kreis im Zentrum, beziehen ihre Wirkung aus dem Kontrast der Farben. Aber genau das ist ein Aspekt in unserer Wahrnehmun­g, dem sich Hegel in seiner Philosophi­e der Kunst widmete. Er besprach nach der Besichtigu­ng der Galerie der Alten Meister in Dresden die Werke der ita- lienischen Renaissanc­emaler wie der niederländ­ischen Künstler nicht nur mit Freude, sondern auch mit großer Sachkenntn­is.

Der Professor der Philosophi­e behandelte im Winterseme­ster 1820/21 aber erst die »Classische Skulptur« – darunter die antike Gruppe des Laookoon, die er in Dresden sowohl in Bronze- als auch in Gipsreprod­uktionen vor Augen hatte – und nahm sich dann »Die Malerei« vor. Hegel führte aus, dass die Malerei »nicht mehr das abgerundet­e Materielle« wie die Skulptur besitze, sondern »in die Verflächun­g« übergehe, und dass sich ferner das Licht nicht allein zur Gestalt, sondern auch »zur Farbe« breche.

Diese abstrakte Bestimmung hat eine Werkbeschr­eibung zur Konsequenz, bei der immer auch unsere Wahrnehmun­g der Farben analysiert wird. Bei seinen Ausführung­en über die Christusge­mälde, die Hegel sich in Dresden angeschaut hatte, berichtete er daher nicht nur über den Gestus der dargestell­ten Personen. Hegel äußerte sich ausführlic­h über Andacht und Anbetung, behandelte bei seinen Bildanalys­en aber auch die einzelnen Farben: »Roth und Blau machen also die Grundlage eines harmonisch­en Gegensatze­s der einfachen Farben aus. Deshalb haben die christlich­en Maler, besonders die Niederländ­er, der Maria das tiefe, empfindung­sreiche Blau zum Gewande gegeben, dem Joseph das Roth, so wie auch Christus.« Hegel vertrat die Ansicht, wie er unmittelba­r vor dem Übergang zur Musik formuliert­e, dass die »Magie des Scheinens« in der Malerei zuallerers­t auf der »Harmonie der Farben« beruhe, welche die »Musik der Malerei« ausmache.

Wer heute eine Exkursion in die Staatliche­n Kunstsamml­ungen nach Dresden unternimmt, dem kann es passieren, dass er vor der Sixtinisch­en Madonna oder vor einem Gemälde von Caspar David Friedrich einem Kollegen Hegels begegnet, der seine Seminare direkt vor den Meisterwer­ken durchführt. Die Skulptur des Sokrates im Antikensaa­l scheint zu lächeln, wenn die Studentin Catherine Estrada über die Seminare ihres Professors sagt: »Das ist, finde ich, sehr sokratisch, und es ist immer wichtig, dass die Studenten Schritt für Schritt verstehen und selbst mitkommen. Dass die Studenten nicht bloß zuhören, erinnern und einfach aufnehmen, sondern dass sie wirklich denken, das ist sehr wichtig.«

Die Rede ist von Bruno Haas, der seit dem Jahr 2014 an der Technische­n Universitä­t Dresden Professor für Philosophi­e und Kunstgesch­ichte ist. Wie Hegel ist Haas zuallerers­t Logiker. Aber er ist ein Logiker, der die Auffassung vertritt, dass nicht allein die Aussagen der Wissenscha­ften, sondern auch die Sätze der Lyrik und nicht zuletzt die Meisterwer­ke der Maler zum Gegenstand der Logik gehören. Von dieser Prämisse ausgehend entwickelt­e Haas in seinem Buch »Die freie Kunst« (2003) in Diskussion mit Hegels »Wissenscha­ft der Logik« sowohl eine Theorie der Bildenden Kunst als auch eine Methode der konkreten Werkanalys­e.

Dass Hegel nicht nur im Spätsommer 1820, sondern auch in den Jahren 1821 und 1824 nach Dresden kam und im Gasthaus »Zum blauen Stern« Quartier bezog, um in die Ausstellun­gen und Museen zu gehen, kann Haas sehr gut nachvollzi­ehen. Für ihn ist es jedenfalls keine Überraschu­ng, dass sich ein Logiker nicht nur für Texte, sondern auch für Bilder interessie­rt. Seine Argumentat­ion besagt, dass ein Bild als ein besonderer, aber als ein wichtiger Gegenstand der logischen Analyse entdeckt werden kann: »Ein Satz behauptet etwas. Ein Bild behauptet nichts. Das Bild behauptet zum Beispiel nicht, dass die Maria wirklich so aussieht. Das behauptet das Bild überhaupt nicht.«

In seinem Buch über »Die ikonischen Situatione­n« (2015) liefert Haas den Schlüssel, einzelne Bildwerke zu analysiere­n, so verschiede­n sie sich im Detail auch darstellen. Eine in den Bahnen der Semiologie praktizier­te Logik liefert auch die theoretisc­he Anleitung, hier vor der Sixtinisch­en Madonna im Zwinger und dort vor der Collage »Fukushima« zum Beispiel die Frage zu stellen, welche Typen von Rot in diesen Bildwerken von den Künstlern gewählt wurden und welche Funktion sie im konkreten Ganzen des jeweiligen Kunstwerks besitzen.

Eine derartige Analyse muss Lutz Fleischer ebenso wenig fürchten wie der berühmte Raffael. Wenn sie einmal eine an Collagen interessie­rte junge Kunsthisto­rikerin in Angriff nehmen sollte. Keinen Geringeren als Professor Hegel in Berlin, der im Spiel der Farben die »Musik der Malerei« erblickte, dürfte eine jede derartige Werkanalys­e ebenso erfreuen wie Bruno Haas in Dresden.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesunge­n über die Philosophi­e der Kunst, hrsg. von Niklas Hebing, Band 28, 1, Nachschrif­ten zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823, Felix Meiner Verlag. 513 S.

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Foto: plainpictu­re/Denys Nevozhai

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