Noch töten sie nur die Pferde
Als die Illustrierte »Der Spiegel« einmal sexuelle Phantasien mit Voyeurismus und Hetze vermischte: In den achtziger Jahren war die AIDS-Hysterie auf dem Höhepunkt.
Vorsicht vor der »Lustseuche«! Ging es nach dem »Spiegel«, sollten promiskuitive Menschen in den 80er Jahren beim Sex stets auf die richtige Schutzkleidung achten.
Der »schwarze Tod« kehrte 1984 nach Europa zurück, 600 Jahre nachdem die Pest ein Drittel der Bevölkerung Europas ausgelöscht hatte. Doch diesmal könnte es noch schlimmer kommen, da war sich der »Spiegel« sicher. Denn die »Schwulenpest«, wie das Magazin die Immunschwächeerkrankung AIDS in einem Artikel 1983 noch nannte, überstieg die Gefahren der mittelalterlichen Seuche um ein Vielfaches: »Als dunkler Schatten zieht sie herauf, eine heimtückische und grausame Krankheit. Die Pest, der ›schwarze Tod‹, ließ jeden zweiten überleben. Von Pocken oder Cholera, Tuberkulose und Syphilis sind in den alten Zeiten die Kranken von ganz allein genesen. Nur AIDS lässt niemandem eine Chance: Bei wem die Krankheit ausbricht, der ist des Todes … Eine Früherkennung ist nicht möglich, der Verlauf schmerzhaft, das Ende voller Qualen.« Zum »Genozid ganzer Nationen«, dem »Holocaust« und der »Apokalypse« wurde AIDS im »Spiegel« zwar erst 1987, drei Jahre nach dem Orwell-Jahr, auf dem Höhepunkt der medialen Berichterstattung und öffentlichen Panik, doch schon 1984 warnte das so genannte Nachrichtenmagazin in apokalyptischem Tonfall: »Die alttestamentarische Vorstellung von der Krankheit als Strafe Gottes ist so faszinierend, dass ihr auch einige Opfer erliegen. Schon wird unter Homos diskutiert, ob AIDS nicht doch ein Zeichen des göttlichen Zorns sei, weil durch die schwulen Lebensumstände die natürliche Ordnung in Wanken geraten ist. Das Stichwort heißt Sittenverfall, genauer: ›Promiskuität‹.« Als am 30. März 1984 der sogenannte »Patient zero« starb, gab es in der Redaktion des »Spiegel« kein Halten mehr; und noch in einem Artikel drei Jahre später hatte sich die voyeuristische Aufregung nicht gelegt: »Gaetan Dugas hat vielen Menschen den Tod gebracht. In medizinischen Fachblättern wurde er noch zu Lebzeiten als der ›Aids-Patient Nummer Null‹ vorgestellt – als die erste identifizierte Ansteckungsquelle der neuen Seuche. Nummer Null hatte, Jahr für Jahr, rund 250 Intimpartner. Von den ersten 248 US-amerikanischen Homosexuellen, die Aids zum Opfer fielen, haben sich nachweislich 40 bei Dugas oder einem seiner Sexualpartner angesteckt.« Angesichts von todbringenden, durch die Welt jettenden Homosexuellen gefiel sich Hans Halter, verantwortlich für einige der reißerischsten »Spiegel«-Artikel zum Thema, im Tonfall der Apokalypse: »HIV dreht ein großes Rad. In Millionen Menschen wird es tagtäglich billiardenfach reproduziert. Dabei wandelt sich permanent seine Gestalt und, will es das Unglück, auch seine Eigenschaften. Retroviren fliegen schon durch die Luft. Noch töten sie nur die Pferde.«
»Die Verschwulung der Welt. Aids. Sieh da! Die Wende. Das Ende«, schrieb der Schriftsteller Hubert Fichte und fragte im gleichen Atemzug: »Was ist denn nun schon wieder los? … Die Nordsee kippt um? Der Harz wird entlaubt? Orwell-Gedächtnisfeiern allenthalben? Die freie Presse stirbt an Immunschwäche?« So Fichte in »Hamburg Hauptbahnhof. Register«, seiner Bestandsaufnahme der aus den Fugen geratenen Welt von 1982 bis 1985, der letzten Jahre vor seinem Tod am 8. März 1986. Womöglich starb Fichte an den Folgen von AIDS, Klarheit herrscht darüber bis heute nicht. AIDS war das beherrschende Thema in seinen letzten zu Lebzeiten verfassten Texten, wie eben jenem »Hamburg Hauptbahnhof«, wo die Immunschwächekrankheit nicht zufällig neben dem OrwellBezug auftaucht. Die apokalyptischen Bilder, die im Buch aneinandergereiht werden, vom ökologischen Kollaps bis zum Kalten Krieg, schienen die Dystopie des Or- well’schen Buches längst überholt zu haben, und Fichte imitierte den plakativen Stil der Medien – vor allem des »Spiegel«, mit 239 Artikeln zum Thema zwischen 1982 und 1987 Meinungsführer und -macher in Sachen AIDS –, die sich an der vermeintlichen Apokalypse weideten: »Aids: Die Bombe ist gelegt«, titelte der »Spiegel« im November 1984 und prognostizierte: »Mindestens 10 000 AidsTote in den nächsten fünf Jahren. Und: Die Seuche bricht aus dem Schwulen-Getto aus. Auch Frauen sind gefährdet.« Angesichts dieser Berichterstattung, geprägt von Unwissen, Ängsten und Voyeurismus, fragte Fichte, ob AIDS nicht womöglich vor allem eine »Geisteskrankheit« sei, womit er, wie sein Biograf Peter Braun ausführt, auf die Presse und deren Hetze verwies, die sich auf die Psyche der Betroffenen auswirke. Der Historiker Sander L. Gilman hat gezeigt, dass die falsche Darstellung von AIDS als einer Geschlechtskrankheit anstatt einer Virenübertragung auch sein Bild geprägt hat. So wurde Homosexualität scheinbar zur Quelle der Epidemie, wodurch eine moralische Dimension in den Krankheitsdiskurs eingezogen wurde. »Die Einhaltung der drei ärztlichen Gebote fällt den erkrankten Homosexuellen offenbar sehr schwer. Ihre Promiskuität übersteigt heterosexuelle Vorstellungen von Mehrverkehr: viele bringen es auf hundert verschiedene Sexualpartner pro Jahr, manche auf tausend«, hieß es entsprechend im »Spiegel«-Artikel »Die Bombe ist gelegt«. In ihrem Buch »Aids und seine Metaphern« hat die US-amerikanische Publizistin Susan Sontag die Folgen der Kriegsmetaphorik im Umgang mit AIDS – Bomben, Metaphern des Angriffs, der Durchdringung und der Verteidigung – beschrieben: Wenn etwa von unschuldigen Opfern die Rede ist, so muss es auch schuldige Opfer geben. Gerade im Kontext AIDS hat sich ein Diskurs über jene »schuldigen« Opfer – die Angehörigen der sogenannten »Risikogruppen« – und die »unschuldigen« Opfer entwickelt, wie etwa HIV-positive Kinder oder durch Bluttransfusionen Infizierte. Gefährlichste »Risikogruppe« im Kontext AIDS: die Homosexuellen dieser Welt. So mahnte im Jahr 1987 der damalige Kurienkardinal Joseph Ratzinger, der Jahre später unter dem Künstlernamen »Benedikt XIV.« Oberhaupt der katholischen Kirche werden sollte: »Man muss nicht von einer Strafe Gottes sprechen. Es ist die Natur, die sich wehrt.« Die Natur wehrte sich, den Wahnvorstellungen des späteren Papstes zufolge, gegen die vermeintlichen moralischen Verfehlungen, gegen die Verschwulung der Welt.
Und doch blickte die Welt so intensiv wie niemals zuvor auf die schwulen Lebenswelten, in die Betten und Saunen, die wie die mittelalterlichen Narrentürme den voyeuristischen Blicken freigegeben wurden. Am 25. Juni 1984 starb, an den Folgen von AIDS, der französische Philosoph Michel Foucault, der in »Wahnsinn und Gesellschaft« geschrieben hat: »Wahrscheinlich war es eine sehr alte Sitte des Mittelalters, die Irren zur Schau zu stellen. In einigen der Narrentürme in Deutschland sind Gitterfenster eingebaut worden, die den Außenstehenden erlaubten, die darinnen angeketteten Irren zu beobachten.« Die Berichterstattung über AIDS nahm spätestens ab 1984 einen ebensolchen Beobachterstatus ein, schwule Sexualität und AIDS wurden zu Presseschauspielen, an denen sich die Mehrheitsgesellschaft weiden konnte. Als Schutzraum vor einer Krankheit, die als die Folge von Promiskuität aufgefasst wurde, rückte dagegen die Familie wieder in den Mittelpunkt. Die 1980er Jahre standen infolge der AIDS-Diskussion auch für eine »Rückbesinnung« auf andere Werte der repressiven 1950er Jahre: Religion, Monogamie, »saubere« Sexualität.
Eine Folge der medialen Berichterstattung und wachsenden gesellschaftlichen Panik waren Ausschlüsse infolge von AIDS. Eine Angst vor Homosexualität allgemein entstand und zog sogar Diskussionen über eine Kennzeichnungspflicht für HIVPositive nach sich. Weitere sogenannte Risikogruppen wurden von dieser Welle der Hysterie erfasst, neben Schwulen auch Drogenabhängige, Prostituierte und Arbeitsmigranten. Die Angst davor, dass AIDS aus den Sphären dieser »Risikogruppen« auf andere Bereiche der Gesellschaft übergreifen könnte, nahm im Laufe der 1980er, wiederum geschürt von den Medien, immer mehr zu. In der Folge wurden repressive Maßnahmen diskutiert, die Schließung von Schwulensaunen, ein »Sexverbot«, der Ausschluss von Infizierten aus der Gesellschaft. Zu all dem ist es glücklicherweise nicht gekommen, und doch scheint die Welt ganz knapp an einer Apokalypse Orwell’schen Ausmaßes vorbeigeschliddert zu sein. Die Ängste wurden geschürt, auf deren Basis demokratische Grundrechte bestimmter gesellschaftlicher Gruppen plötzlich zur Disposition standen. Im Windschatten von AIDS ertönte der Ruf nach der Kontrollgesellschaft.
»Der Spartacus Guide erschien nicht mehr … Diese Welt war zu Ende. Weil dies Buch zu Ende war, das diese Welt erst erschaffen hatte. Das Bain Voltaire wurde eingerissen. Das Cinéma Luxor am Boulevard Magenta war eine Ruine, Paris hatte seinen Nabel verloren. Zu. Aus. Kein Spartacus Guide mehr. Eingerissen und von Mykosen überwuchert.« Dieses kleine Ende der Welt, wie es Hubert Fichte hier prophezeite, ist auch nicht eingetreten, der »Spartacus International Gay Guide«, der bereits 1983 über AIDS informiert hatte, erscheint bis in die Gegenwart und kämpft weiter für die Verschwulung der Welt.