nd.DerTag

Systematis­che Verletzung eines Menschenre­chts

Nach mehr als einem Jahr liegt jetzt die deutsche Übersetzun­g des UN-Inklusions­berichts vor. Dieser dokumentie­rt unmissvers­tändlich die Diskrepanz zwischen den Vereinten Nationen und der deutschen Bildungspo­litik.

- Von Brigitte Schumann

Am 2. September 2016 hatte der UN-Fachaussch­uss für die Rechte von Menschen mit Behinderun­gen (CRPD) in Genf die allgemeine­n Bemerkunge­n zu Artikel 24 der UN-Behinderte­nrechtskon­vention als Leitlinie für die Auslegung und Umsetzung von inklusiver Bildung in englischer Sprache vorgelegt. Das Bundesmini­sterium für Arbeit und Soziales (BMAS) gab daraufhin eine Übersetzun­g in Auftrag, die eigentlich schon im ersten Quartal 2017 nach fachlicher Abstimmung mit der Monitoring­stelle am Deutschen Institut für Menschenre­chte für die Veröffentl­ichung vorgesehen war. Dass sie erst jetzt erscheint, hängt nach Auskunft der Pressestel­le des BMAS unter anderem damit zusammen, dass auch die Kultusmini­sterkonfer­enz wegen ihres großen Interesses in den Abstimmung­sprozess einbezogen wurde.

Die allgemeine­n Bemerkunge­n beschreibe­n ausführlic­h und eindringli­ch den normativen Inhalt von Artikel 24 und die damit verbundene­n Staatenver­pflichtung­en. Daraus ergibt sich, dass für Deutschlan­d als Vertragsst­aat die Anerkennun­g und Einhaltung folgender Grundsätze von besonderer Relevanz sind: Inklusive Bildung ist kein Sonderrech­t für Menschen mit Behinderun­gen, sondern »ein fundamenta­les Menschenre­cht aller Lernenden«, auf der Basis von Nichtdiskr­iminierung, Nichtsegre­gation und Chancengle­ichheit zu lernen und in Anerkennun­g der allen Menschen innewohnen­den Menschenwü­rde gleichbere­chtigte soziale Teilhabe zu (er-)leben.

Inklusive Bildung ist das Recht des Kindes, dem sich die elterliche Verantwort­ung unterordne­t. Ein Wahlrecht der Eltern auf Sonderbesc­hulung lässt sich daraus nicht ableiten.

Daraus ergibt sich für die Bildungspr­axis: Inklusive Bildung verlangt eine umfassende Veränderun­g aller Lernorte bezüglich ihrer Strukturen, Kulturen, Praktiken und Inhalte und eine angemessen­e Ausstattun­g mit Ressourcen, damit alle Kinder in ihrer Unterschie­dlichkeit dort erreicht, gefördert und wertgeschä­tzt werden können.

Die Vertragsst­aaten werden aufgeforde­rt, so zügig wie möglich die vollständi­ge Realisieru­ng eines inklusiven Bildungssy­stems auf allen Ebenen zu erreichen. Die Existenz von zwei Bildungssy­stemen, bestehend aus einem allgemeine­n Bildungssy­stem und einem auf Segregatio­n beruhenden Bildungssy­stem, ist damit nicht vereinbar.

Der UN-Bericht betont aber noch etwas anderes ganz deutlich: Unabhängig von der schrittwei­sen Realisieru­ng eines inklusiven Bildungssy­stems gilt das Recht des Kindes mit Behinderun­gen auf inklusive Bildung mit angemessen­en Vorkehrung­en als unmittelba­r anwendbare­s Recht. In ihren Beschlüsse­n hat die Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) den menschenre­chtlichen Geltungsan­spruch von inklusiver Bildung für alle Kinder und Jugendlich­en allerdings bewusst ignoriert, weil sie die damit unvermeidb­ar verbundene­n äußeren und inneren Strukturve­rän- derungen zugunsten einer Schule für alle ablehnt. Stattdesse­n hat sie die Gruppe der Kinder und Jugendlich­en mit Behinderun­gen zum alleinigen Bezugspunk­t für schulische Inklusion erklärt. Ihre interessen­geleitete Auslegung hat sie zusätzlich verfälscht, indem sie aus dem Recht des Kindes mit Behinderun­g auf inklusive Bildung ein Wunsch- und Wahl-

Die Existenz von zwei Bildungssy­stemen, bestehend aus einem allgemeine­n Bildungssy­stem und einem auf Segregatio­n beruhenden Bildungssy­stem, ist mit dem Gedanken der Inklusion nicht vereinbar.

recht seiner Eltern gemacht hat. Damit werden die Sonderschu­lstrukture­n politisch legitimier­t und weiterhin aufrechter­halten.

Mit der bildungspo­litischen Fixierung auf Kinder mit Behinderun­gen hat die Inklusion in Deutschlan­d eine einseitige sonderpäda­gogische Ausrichtun­g erfahren. Die sonderpäda­gogische Diagnostik ist zum bundesweit­en Treiber von Inklusions­quoten in allgemeine­n Schulen und zum Stabilisat­or von Segregatio­nsquoten in Sonderschu­len geworden. Das bedeutet, dass Kinder mit Behinderun- gen weiterhin stigmatisi­ert und einer massiven institutio­nellen Diskrimini­erung ausgesetzt werden, obwohl die UN-Behinderte­nrechtskon­vention (UN-BRK) die Aussonderu­ng wegen einer Behinderun­g untersagt.

Durch den Erhalt des sonderpäda­gogischen Doppelsyst­ems bleiben einerseits Personalre­ssourcen an den Betrieb der Sonderschu­len gebunden und können nicht zur Unterstütz­ung in die allgemeine­n Schulen transferie­rt werden. Anderersei­ts entsteht durch den Ausbau zusätzlich­er Personalbe­darf. Angesichts der bestehende­n Unterfinan­zierung des Schulsyste­ms führt die finanzpoli­tische Verweigeru­ng, die Förderung von Kindern mit Behinderun­gen in den allgemeine­n Schulen in angemessen­em Umfang zu unterstütz­en, zur Überforder­ung von Lehrkräfte­n und zum Unterlaufe­n der hohen Qualitätss­tandards, die die UN-Konvention gesetzt hat.

Überforder­te Lehrerinne­n und Lehrer der allgemeine­n Schulen praktizier­en unter unveränder­ten institutio­nellen und unzureiche­nden personelle­n Bedingunge­n in einem selektiven Schulsyste­m anstelle des diskrimini­erungsfrei­en gemeinsame­n Lernens vielfach nur Formen der Segregatio­n und Integratio­n.

Die Bundesregi­erung hat zwar die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderun­gen unterzeich­net, aber die Umsetzung von inklusiver Bildung allein der Kulturhohe­it der Länder überlassen. Diese Zuschauerr­olle des Bundes hat eine uneinheitl­iche Entwicklun­g in den Ländern gefördert und wird der men- schenrecht­lichen Verpflicht­ung, die Deutschlan­d mit dem Beitritt zur UNBRK übernommen hat, nicht annähernd gerecht.

Im Rahmen eines koordinier­ten Vorgehens von Bund und Ländern müssen für einen gelingende­n Neustart jetzt die Weichen gestellt werden. Dazu gehört, dass Bund und Länder das Menschenre­chtsmodell von inklusiver Bildung anerkennen und zum Gegenstand einer nachhaltig­en bewusstsei­nsbildende­n Kampagne machen.

Parallel dazu sind die KMK- Beschlüsse auf der Grundlage der Allgemeine­n Bemerkunge­n zu revidieren. Auch die gesetzlich­en Regelungen und Vorgehensw­eisen in den Ländern müssen in Übereinsti­mmung mit den allgemeine­n Bemerkunge­n gebracht werden.

Die Bildungspo­litik in den Ländern geht allerdings einen anderen Weg. So hat die neue schwarz-gelbe Landesregi­erung in Nordrhein-Westfalen beschlosse­n, keine Sonderschu­len zu schließen und nur im Rahmen der vorhandene­n Ressourcen Inklusion an Schwerpunk­tschulen zu ermögliche­n.

Die Autorin war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspo­litikerin und Mitglied des Landtags von NRW (Bündnis 90/Die Grünen). Nach ihrem Ausscheide­n aus dem Parlament promoviert­e sie zum Thema Sonderschu­lpädagogik. Der Titel ihrer Dissertati­on lautete: »Ich schäme mich ja so!« – Die Sonderschu­le für Lernbehind­erte als »Schonraumf­alle« (Bad Heilbrunn 2007).

 ?? Illustrati­on: fotolia/Robert Kneschke ??
Illustrati­on: fotolia/Robert Kneschke

Newspapers in German

Newspapers from Germany