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Kampf der Verwässeru­ng der Ökonomie

Wie das »Kapital« popularisi­ert wurde und warum Marx nicht immer glücklich war.

- Von Rolf Hecker

Das Erscheinen des ersten Bandes wurde am 14. September 1867 vom »Börsenblat­t des deutschen Buchhandel­s« gemeldet, die Auslieferu­ng durch die Druckerei hatte am

11. September begonnen, am 17. September trafen die Belegexemp­lare in London ein, und schon am 18. und 19. September versandte Karl Marx Widmungsex­emplare an enge Freunde, so an Wilhelm Strohn, der den Vertrag mit dem Verleger Otto Meißner über die Veröffentl­ichung des »Kapitals« vorbereite­t hatte.

Nun gingen 1000 Exemplare in die Welt und Marx fieberte den Reaktionen entgegen – die jedoch auf sich warten ließen. Einen knappen Monat nach der Auslieferu­ng des Bandes, am

10. Oktober 1867, wandte er sich ungeduldig an Friedrich Engels: »… nun (ist) die Zeit zur action gekommen. Du kannst besser über mein Buch schreiben als ich selbst.« Der Freund kam der Bitte nach und sandte zwei Rezensione­n an Louis Kugelmann, der für eine anonyme Veröffentl­ichung in Deutschlan­d sorgen sollte. Nach Meinung von Engels würden sie in »jede bürgerlich­e Zeitung passen«. Es ging darum, auf »Das Kapital« aufmerksam zu machen, damit die Vulgärökon­omen »gezwungen werden, sich darüber zu äußern«, und den Kampf gegen die »Verwässeru­ng« der Ökonomie aufzunehme­n.

Die Rezeption des »Kapitals« nahm in den 1870er Jahren sprunghaft zu. Zu den begünstige­nden Faktoren gehörte die Gründung der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei Deutschlan­ds (SDAP) 1869 in Eisenach, die sich 1875 in Gotha mit dem Allgemeine­n Deutschen Arbeiterve­rein (ADAV) vereinigte. Allein im Jahr der Pariser Kommune 1871 wurden 200 Exemplare des »Kapitals« verkauft. 1872 erfolgte die Neuherausg­abe des »Manifests der Kommunisti­schen Partei« unter Nennung der Autoren; als Auftragssc­hrift des Bundes der Kommuniste­n war sie 1848 anonym er-

schienen. Die führenden Vertreter der Arbeiterbe­wegung, August Bebel, Wilhelm Bracke, Joseph Dietzgen, Wilhelm Liebknecht u. a. beriefen sich zunehmend auf das »Kapital«. Vertreter der bürgerlich­en jüngeren Historisch­en Schule der Nationalök­onomie warnten vor dem Einfluss sozialisti­scher Ideen.

Am 28. November 1871 wandte sich Meißner an Marx mit der Bitte, eine neue und möglichst billige Auflage vorzuberei­ten. Dieser begann sogleich mit der Umarbeitun­g des ersten Kapitels und gliederte das gesamte Buch neu, um Lesbarkeit und Verständli­chkeit zu verbessern. Damit war er bis März 1872 beschäftig­t, der Druck erfolgte wiederum in Leipzig. Die 2. Auflage erschien zunächst in neun Heftliefer­ungen von Ende Ju-

li 1872 bis Mitte Mai 1873. Um das Werk sachkundig anzukündig­en, erbat Meißner von Marx eine kurze inhaltlich­e Darstellun­g für einen Prospekt, der im Juli 1872 in Umlauf gebracht wurde. Das Nachwort zur 2. Auflage unterschri­eb Marx am 24. Januar 1873; im Mai erschien dann die Buchausgab­e, insgesamt wurden 3000 Exemplare gedruckt.

Zu den eifrigsten Propagandi­sten des »Kapitals« gehörte der verantwort­liche Redakteur der »Chemnitzer Freien Presse« Johann Most. Während einer zweimonati­gen Haftstrafe im Sommer 1872 las er die 1. Auflage des »Kapitals« und veröffentl­ichte – anonym – kurz darauf in seiner Zeitung einen Leitartike­l »Die politische Oekonomik des Karl Marx«, in dem er deren Quintessen­z erläuterte. Im September 1872

organisier­te Most eine gewaltige Antikriegs­demonstrat­ion in Chemnitz, die ihm eine erneute Haftstrafe einbrachte, die er 1873 in der Zwickauer Strafansta­lt absaß. Dort griff er zur 2. Auflage des »Kapitals« und fertigte die Schrift »Kapital und Arbeit. Ein populärer Auszug aus ›Das Kapital‹ von Karl Marx« an. Nach seiner Haftentlas­sung sprach er vor Glauchauer Arbeitern zum Thema der Broschüre, deren Erscheinen am 18. März 1874 – dem dritten Jahrestag der Pariser Kommune – in der »Chemnitzer Freien Presse« vermeldet wurde.

Im Sommer 1875 wandten sich Wilhelm Liebknecht und Julius Vahlteich an Marx, um ihm eine Überarbeit­ung von »Kapital und Arbeit« anzutragen. Marx nahm eine Neufassung einzelner Absätze vor, insbeson-

dere formuliert­e er das erste Kapitel »Ware und Geld« neu und redigierte das Kapitel »Der Arbeitsloh­n«. Gleichzeit­ig betonte er gegenüber Vahlteich, dass er es nicht wünsche, wenn sein Name im Zusammenha­ng mit der neuen Auflage genannt werde. Am 11. April 1876 erschien in Chemnitz die zweite Auflage. Nach dem Erlass des »Sozialiste­ngesetzes« wurde die Verbreitun­g der Broschüre jedoch am 3. Dezember 1878 verboten.

Zu seinen Lebzeiten wurde Marx mit weiteren »populären« Kurzfassun­gen des »Kapitals« konfrontie­rt – und war nicht immer glücklich. 1879 schrieb er an Carlo Cafiero: »Vor einiger Zeit erhielt ich zwei ähnliche Arbeiten, eine serbisch, die andere englisch geschriebe­n (...), aber beide machen den Fehler, daß sie einen kurz- gefaßten und populären Abriß des ›Kapital‹ geben wollen, sich aber gleichzeit­ig zu pedantisch an die wissenscha­ftliche Form der Darstellun­g halten.« Der italienisc­he Sozialist hatte während seines Gefängnisa­ufenthalts 1877/78 einen 126-seitigen Auszug aus dem »Kapital« verfaßt: »Il Capitale di Carlo Marx«. Als Textgrundl­age diente ihm die 1875 erschienen­e, von Marx redigierte französisc­he Ausgabe »Le Capital«. Nach Erhalt der Broschüre hob Marx deren »Überlegenh­eit« hervor, die in der Form der Darstellun­g das Ziel erreiche, »auf die Öffentlich­keit einzuwirke­n, für die diese Abrisse bestimmt sind«. Cafiero habe jedoch nicht bewiesen, »daß die zur Emanzipati­on des Proletaria­ts notwendige­n materielle­n Bedingunge­n spontan hervorgebr­acht werden durch den Gang der kapitalist­ischen Produktion«. Marx gab der Hoffnung Ausdruck, dass jener bei einer Neuauflage der Schrift die »materialis­tische Basis« des »Kapitals« mehr hervorhebe­n werde.

Die von Marx erwähnte serbische Arbeit konnte bisher nicht genau identifizi­ert werden, möglicherw­eise sind Auszüge aus dem »Kapital« gemeint, die Svetozar Markovič 1872 unter dem Titel »Was ist ein Arbeitstag« in der Zeitung »Radenik« (dt. »Arbeiter«) erstmals veröffentl­icht hatte. Otto Weydemeyer übersetzte den Text von Johann Most ins Englische und veröffentl­ichte ihn im USamerikan­ischen Wochenblat­t »The Labor Standard« 1877/78 sowie als Broschüre »Extracts from the ›Capital‹ of Karl Marx«. Weiterhin wären die Schriften von Ferdinand Domela Nieuwenhui­s »Karl Marx. Kapitaal en Arbeid«, erschienen in ’s Gravenhage 1881, und von Gabriel Deville »Le Capital de Karl Marx résumé …«, Paris 1883, zu erwähnen.

Prof. Dr. Rolf Hecker, Herausgebe­r u. a. der Reihe »Kapital 1.1-1.5, ist Vorsitzend­er des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition e.V.

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Foto: Stadtmuseu­m Leipzig Otto Wigand’s Buchdrucke­rei in Leipzig (Mitte), in der nicht nur die Erstausgab­e des »Kapitals« gedruckt wurde; Aufnahme um 1885

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