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Setzen, korrigiere­n, revidieren – und endlich drucken

Der Leipziger Produktion­sprozess des »Kapitals« – Otto Wigand’s Buchdrucke­rei.

- Von Volker Külow

Der erste Band von Marx’ ökonomisch­em Hauptwerk trägt den Untertitel »Der Produktion­sprozess des Kapital«. Erstaunlic­herweise ist der unmittelba­re Produktion­sprozess des 1867 in Hamburg verlegten »Kapitals« bislang kaum untersucht worden. Der 150. Jahrestag der Erstveröff­entlichung reizte den Hamburger Autor Jürgen Bönig nicht nur aus lokalpatri­otischen Motiven, diesen akribisch zu untersuche­n (»Karl Marx in Hamburg. Der Produktion­sprozess des ›Kapital‹«. VSA, 184 S., br., 19,80 €). Dabei gelangte der Fachmann für Druckgesch­ichte zu erstaunlic­hen Entdeckung­en. Fast minuziös leuchtete er einen Zeitraum von fünf Monaten im Leben von Karl Marx aus: Am 12. April 1867 hatte dieser in Hamburg das Manuskript des »Kapitals« an seinen Verleger Otto Meissner persönlich übergeben. An seinem Geburtstag, am 5. Mai 1867, trafen die ersten Andrucke des in Leipzig gesetzten und gedruckten Werkes in Hannover ein, wo sich Marx’ Verleger bei Ludwig Kugelmann aufhielt.

Erstmals wird die Abfolge und Dauer der Arbeitssch­ritte deutlich, das Auszeichne­n des Manuskript­s, Setzen, Korrigiere­n, Revidieren und Freigeben des Druckes mit anschließe­nder Feststellu­ng noch vorhandene­r Druckfehle­r. Gezeigt, dass Meissner manchmal etwas anderes will und tut, als Marx meint, und Marx etwas anderes macht, als er Engels schreibt.

Hinzu kam, dass Marx den Umfang seiner Textmenge um die Hälfte unterschät­zte und damit auch das Ausmaß der Arbeit nach der Manuskript­abgabe. Der Druck stand unter dem Zwang, möglichst schnell eine zu umfänglich­e Arbeit auf 50 Druckbogen unterzubri­ngen – eine Buchstaben­wüste ohne erholsame Oasen von Leerseiten und Zwischenrä­umen. Aber nicht nur dies mussten Meissner und die von ihm beauftragt­e Druckerei bewältigen. Es lag auch eine schwierige Handschrif­t vor. Zudem enthielt das Werk insgesamt 1023 Fußnoten nebst Anhang (»Die Werthform«).

Dazu war nur eine exzellente Druckerei fähig, die Meissner in Hamburg augenschei­nlich nicht zur Verfügung stand. Deswegen wich er nach Leipzig zu »Otto Wigand’s Buchdrucke­rei« aus, mit der ihn schon eine mehrjährig­e solide Geschäftsb­eziehung verband; u. a. hatte er hier 1865 von Engels »Die Preußische Militärfra­ge und die Deutsche Arbeiterpa­rtei« drucken lassen. Bis vor zweieinhal­b Jahrzehnte­n Inge Kießhauer das filigrane Geflecht des Wigandsche­n Familienun­ternehmens entwirrte, war das berühmte Verlagsunt­ernehmen des mit Marx persönlich bekannten Vaters Otto Friedrich Wigand mit der Buchdrucke­rei seiner beiden Söhne Otto Alexander und Walther Wilhelm Wigand verwechsel­t worden. Da dem Autor dieser Zeilen nicht nur bei der Entdeckung der Bauakte für das Gebäude am Roßplatz 3b das Finderglüc­k hold war, wissen wir seit kurzem etwas mehr über das Leipziger Unternehme­n.

Die von Otto Alexander Wigand geleitete Druckerei war in den Jahren 1857/1858 von seinem jüngeren Bruder Walther errichtet worden. Im zweiten Stock des Gebäudes wohnte der Bauherr selbst; er verfügte hier über ca. acht Zimmer, zwei Stuben für

Ironie der Geschichte: Vier Jahre vor Marx’ »Kapital« druckte Wiegand die Schriften seines Gegenspiel­ers – Ferdinand Lassalle.

Dienstmädc­hen, Bad, Küche. Für die Druckvorbe­reitung, Setzerei und Buchdrucke­rei stand auf drei Etagen (einschließ­lich Souterrain) eine Gesamtfläc­he von ca. 600 Quadratmet­ern zur Verfügung. Die Inbetriebn­ahme der Druckerei, deren Maschinen von einer Dampfkesse­lanlage betrieben wurden, verzögerte sich durch einen Brand am 7. März 1859. Die überliefer­te Brandschad­ensakte weist aus, dass der Gesamtwert der Druckereia­usstattung, darunter fünf Schnellpre­ssen und 300 Zentner Schriften, 44 900 Thaler betrug; das Gebäude war auf 22 520 Thaler veranschla­gt.

Die Druckerei nahm vermutlich noch 1859 ihre Produktion auf. Ab 1860/1861 wurden Aufträge von Meissner abgewickel­t. Wenig später gewann der politisch wache Otto Alexander Wigand – 1862 wanderte er wegen eines Pressverge­hens eine Woche ins Gefängnis – einen weiteren namhaften Kunden: Ferdinand Lassalle. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie der Geschichte, dass vier Jahre vor Marx’ »Kapital« zunächst die wirkmächti­gsten Schriften seines Gegenspiel­ers, so Lassalles »Offnes Antwortsch­reiben« und sein »Arbeiterpr­ogramm«, am Roßplatz 3b in zum Teil beträchtli­cher Auflage gedruckt wurden. Die Wigandbrüd­er erwiesen sich als verlässlic­he und faire Geschäftsp­artner, selbst wenn Las- salle in seinen Briefen die vermeintli­che »Langsamkei­t« der Druckerei immer wieder beklagte.

Auch der ungeduldig­e Marx fällte während der Herstellun­g des »Kapitals« über die Leipziger Druckerei manch ungerechtf­ertiges Urteil, obwohl ihn Otto Alexander Wigand zuverlässi­g mit den neuen Druckbogen, die wenig Fehler enthielten, zum Korrekturl­esen versorgte. Für die 800 Seiten des Endprodukt­es, die durchschni­ttlich 42 Zeilen und 75 Zeichen pro Zeile und eine Gesamtzeic­henzahl von 1 935 214 Zeichen umfassten, wurden vermutlich über 2700 Arbeitsstu­nden benötigt. Leider sind die Namen der vier bis fünf Setzer nicht überliefer­t. Vornehmlic­h ihrem exzellente­n Können sowie der sorgfältig­en Schriftaus­wahl, dem gleichmäßi­gen Schriftbil­d und sauberen Druck auf einer Schnellpre­sse ist es zu verdanken, dass das »Kapital« trotz einem relativ kleinen Schriftgra­d von neun Punkt (die Fußnoten waren noch zwei Punkt kleiner) und recht eng bedruckten Seiten relativ leicht lesbar war.

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