Der Sturz – auch von Vorurteilen
Ein Unfall in den Bergen von Rosa Khutor bei Sotschi schien das Ende der Reise zu sein. Stattdessen lernte ein Journalist die russische Seele kennen.
Der Autor wieder auf eigenen Beinen nach seinem Unfall
Ich war sicher zu wissen, was mich erwartet, als ich mich entschloss, nach Sotschi zu reisen: Die Sportanlagen, so hatte ich gelesen, die Russland zur Winterolympiade 2014 in der SchwarzmeerStadt errichten ließ, verrotten so langsam. Die meisten der 14 Hotels im olympischen Skigebiet Rosa Khutor im Westkaukasus, eine knappe Stunde von Sotschi entfernt, stehen leer. Und das Retortendorf Rosa Khutor zu besuchen macht eigentlich nur im Winter Sinn, im Sommer ist da »tote Hose«. Und was Russland und die Russen insgesamt betrifft, hatte ich, ein gelernter »Wessi«, ein mulmiges Gefühl. Mir gingen Bilder des grimmig dreinblickenden russischen Präsidenten Wladimir Putin durch den Kopf. Mir, wo ich doch so gerne nach Griechenland reise und in der Herzlichkeit der Südländer geradezu bade.
Dann kam alles ganz anders als erwartet. Die Reise verschaffte mir eine der angenehmsten Erfahrungen meines Lebens. Doch der Reihe nach. Bei der nächtlichen Ankunft am Flughafen Sotschi erwartete uns unsere Dolmetscherin Jelena Korniyuk, die perfekt Deutsch spricht. Jahrelang hatte sie für Intourist gearbeitet, die ehemalige staatliche Reiseagentur, und war auch zur VIP-Betreuung bei der Winterolympiade eingesetzt. Noch konnte ich nicht ahnen, dass sie auf der Reise zu meinem Schutzengel werden würde.
Rosa Khutor war eine Überraschung. Wenn man so will, ist es eine Ansammlung von Hotels, Geschäften und Servicegebäuden, die entlang des Gebirgsflusses Mzymta aus dem Boden gestampft worden sind, eine Retortensiedlung – aber eine vom Feinsten. Eine bunte, fröhliche Welt. Die Hotels, darunter Häuser weltbekannter Marken, sahen proper aus. Leer stand keines, im Gegenteil: Die Promenaden entlang des Flusses waren von Urlauberfamilien bevölkert, »die meisten aus Russland und den umliegenden Ländern«, wie uns Alexandr Belokobylski erklärte, eine Art Generaldirektor der Siedlung Rosa Khutor. Die Gäste aus Europa machen nur 1,5 Prozent aus. Genaue Zahlen werden nicht auf den Tisch gelegt, nur so viel: Knapp 3000 Hotelzimmer stehen zur Verfügung. Und dass die Lifte, die von Rosa Kuthor hinauf in die Berge führen, im Sommer und Winter von 1,2 Millionen Personen benutzt werden.
Erstaunlich ist, dass die Siedlung im Sommer mehr Gäste anzieht als im Winter: Familien, Wanderer, Badeurlauber. Jeden Morgen fahren 20 Busse die Sommergäste nach Sotschi zum hoteleigenen Badestrand am Schwarzen Meer. »Wir arbeiten Richtung Winter«, sagt Belokobylski. Im
Rosa Khutor entstand für die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014.
Winter wird Condor wie im Vorjahr wieder einmal pro Woche von Schönefeld zum Flug nach Sotschi starten. Die Thomas-Cook-Tochter Bucher wird Hotels auf dem deutschen Markt anbieten. »Das wollen wir auch für den Sommer erreichen«, sagt Lutz Schönfeld, ein alter Hase im Luftfahrtgeschäft und PR-Direktor der Promark GmbH in Deutschland, einem Tochterunternehmen eines russischen Unternehmens, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Region besser bekannt zu machen.
Ein Ausflug in die 400 000-Einwohner-Stadt Sotschi, die sich 70 Kilometer entlang der Schwarzmeerküste erstreckt, ist so etwas wie Pflicht für jeden Gast in Rosa Khutor. Es sind weniger die alten Sanatorien und die anderen Prachtbauten im Stalin-Empire, die Besucher anlocken, als der moderne Olympiapark. Nach den Olympischen Spielen wurde er zu einem großen, stark frequentierten Freizeitpark. Entgegen der Darstellung in manchen Medien hierzulande sind die Beispiele geschickter Nachnutzung von Olympiabauten imponierend.
Das touristische Kapital von Rosa Khutor im Sommer wie im Winter aber sind die Berge. Also auf! Drei moderne Kabinenseilbahnen brachten uns in einer halben Stunde hinauf zum Rosa Peak auf 2300 Meter Höhe. Wenn ein Reiseführer schreibt, der weite Blick vom Aussichtspunkt auf dem Gipfel auf die Berge des Westkaukasus sei atemberaubend, so ist das keinesfalls übertrieben.
Ein Panoramaweg sollte uns Richtung Kamenny Stolb, dem mit 2509 Metern höchsten Gipfel führen. Eigentlich ein harmloser Schotterweg – aber patsch, lag ich lang. Auftreten konnte ich nicht mehr. Das ist das Ende meiner Reise, dachte ich traurig. Doch es kam anders. Da waren erst einmal die Mitreisenden, die reagierten, als hätten wir gemeinsam eine Notfallübung absolviert. Sie schoben mir eine weiche Unterlage unter den Kopf und spendeten mir Schatten.
Jelena rief Hilfe herbei, die sehr schnell kam. Ein Buggy brachte mich zur Bergstation einer der vielen Seilbahnen; zwei Sanitäter schleppten mich regelrecht hin. Mein Bein schmerzte, sie versuchten mich bei Laune zu halten. Jelena Korniyuk, die nicht von meiner Seite wich, übersetzte sogar alle Scherze. Dreimal mussten wir die Seilbahn wechseln, ehe ich in einen Krankenwagen umgeladen und ins nächste Krankenhaus gebracht werden konnte. Die Sanitäter und Jelena immer dabei.
Höflich, gar eine Spur herzlich war die Behandlung im Krankenhaus – und sehr professionell. Mein Bein wurde per Ultraschall untersucht, zum Glück war es nicht gebrochen. Obwohl die Diagnose Muskelriss im linken Oberschenkel nun nicht gerade das war, was meine Stimmung heben konnte, versuchten die Sanitäter es weiter mit guter Laune. »Der läuft heute keiner Frau mehr nach«, scherzte einer, als mir eine Beinschiene angelegt wurde und ich auf zwei Krücken durch die Gänge humpelte.
Bis zum Ende der Reise erlebte ich nur Hilfsbereitschaft, und zwar von der ganz selbstverständlichen Art: im Hotel, in Restaurants, auf den Flughäfen von Sotschi und Moskau. Im Olympiapark, der absolut barrierefrei ist, konnte ich mich mit meinem Rollstuhl, den mir das Hotel geliehen hatte, überall problemlos bewegen. Und wenn ich mich mit Gehhilfen humpelnd oder im Rollstuhl einem Restaurant näherte, sprang schon jemand herbei und öffnete mir die Tür – herzlich lächelnd und nicht mitleidig. Ein Mitarbeiter der Rezeption unseres Hotels wurde nicht müde, mich im Rollstuhl auf mein Zimmer zu bringen oder von dort abzuholen. Hundertfach wurde mir ein Lächeln, ein gutes Wort oder eine nette Geste geschenkt.
Ich schämte mich meiner Vorurteile: Mir war vorher nicht bewusst, was für ein warmherziges Volk die Russen sind und wie sie aufeinander achten. »Das ist die russische Seele«, lachte Jelena.
Ich schämte mich meiner Vorurteile: Mir war vorher nicht bewusst, was für ein warmherziges Volk die Russen sind und wie sie aufeinander achten. »Das ist die russische Seele«, lachte Jelena.