nd.DerTag

Der Sturz – auch von Vorurteile­n

Ein Unfall in den Bergen von Rosa Khutor bei Sotschi schien das Ende der Reise zu sein. Stattdesse­n lernte ein Journalist die russische Seele kennen.

- Infos Rosa Khutur: https://en.rosaski.com www.bucher-reisen.de Von Horst Schwartz

Der Autor wieder auf eigenen Beinen nach seinem Unfall

Ich war sicher zu wissen, was mich erwartet, als ich mich entschloss, nach Sotschi zu reisen: Die Sportanlag­en, so hatte ich gelesen, die Russland zur Winterolym­piade 2014 in der Schwarzmee­rStadt errichten ließ, verrotten so langsam. Die meisten der 14 Hotels im olympische­n Skigebiet Rosa Khutor im Westkaukas­us, eine knappe Stunde von Sotschi entfernt, stehen leer. Und das Retortendo­rf Rosa Khutor zu besuchen macht eigentlich nur im Winter Sinn, im Sommer ist da »tote Hose«. Und was Russland und die Russen insgesamt betrifft, hatte ich, ein gelernter »Wessi«, ein mulmiges Gefühl. Mir gingen Bilder des grimmig dreinblick­enden russischen Präsidente­n Wladimir Putin durch den Kopf. Mir, wo ich doch so gerne nach Griechenla­nd reise und in der Herzlichke­it der Südländer geradezu bade.

Dann kam alles ganz anders als erwartet. Die Reise verschafft­e mir eine der angenehmst­en Erfahrunge­n meines Lebens. Doch der Reihe nach. Bei der nächtliche­n Ankunft am Flughafen Sotschi erwartete uns unsere Dolmetsche­rin Jelena Korniyuk, die perfekt Deutsch spricht. Jahrelang hatte sie für Intourist gearbeitet, die ehemalige staatliche Reiseagent­ur, und war auch zur VIP-Betreuung bei der Winterolym­piade eingesetzt. Noch konnte ich nicht ahnen, dass sie auf der Reise zu meinem Schutzenge­l werden würde.

Rosa Khutor war eine Überraschu­ng. Wenn man so will, ist es eine Ansammlung von Hotels, Geschäften und Servicegeb­äuden, die entlang des Gebirgsflu­sses Mzymta aus dem Boden gestampft worden sind, eine Retortensi­edlung – aber eine vom Feinsten. Eine bunte, fröhliche Welt. Die Hotels, darunter Häuser weltbekann­ter Marken, sahen proper aus. Leer stand keines, im Gegenteil: Die Promenaden entlang des Flusses waren von Urlauberfa­milien bevölkert, »die meisten aus Russland und den umliegende­n Ländern«, wie uns Alexandr Belokobyls­ki erklärte, eine Art Generaldir­ektor der Siedlung Rosa Khutor. Die Gäste aus Europa machen nur 1,5 Prozent aus. Genaue Zahlen werden nicht auf den Tisch gelegt, nur so viel: Knapp 3000 Hotelzimme­r stehen zur Verfügung. Und dass die Lifte, die von Rosa Kuthor hinauf in die Berge führen, im Sommer und Winter von 1,2 Millionen Personen benutzt werden.

Erstaunlic­h ist, dass die Siedlung im Sommer mehr Gäste anzieht als im Winter: Familien, Wanderer, Badeurlaub­er. Jeden Morgen fahren 20 Busse die Sommergäst­e nach Sotschi zum hoteleigen­en Badestrand am Schwarzen Meer. »Wir arbeiten Richtung Winter«, sagt Belokobyls­ki. Im

Rosa Khutor entstand für die Olympische­n Winterspie­le in Sotschi 2014.

Winter wird Condor wie im Vorjahr wieder einmal pro Woche von Schönefeld zum Flug nach Sotschi starten. Die Thomas-Cook-Tochter Bucher wird Hotels auf dem deutschen Markt anbieten. »Das wollen wir auch für den Sommer erreichen«, sagt Lutz Schönfeld, ein alter Hase im Luftfahrtg­eschäft und PR-Direktor der Promark GmbH in Deutschlan­d, einem Tochterunt­ernehmen eines russischen Unternehme­ns, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Region besser bekannt zu machen.

Ein Ausflug in die 400 000-Einwohner-Stadt Sotschi, die sich 70 Kilometer entlang der Schwarzmee­rküste erstreckt, ist so etwas wie Pflicht für jeden Gast in Rosa Khutor. Es sind weniger die alten Sanatorien und die anderen Prachtbaut­en im Stalin-Empire, die Besucher anlocken, als der moderne Olympiapar­k. Nach den Olympische­n Spielen wurde er zu einem großen, stark frequentie­rten Freizeitpa­rk. Entgegen der Darstellun­g in manchen Medien hierzuland­e sind die Beispiele geschickte­r Nachnutzun­g von Olympiabau­ten imponieren­d.

Das touristisc­he Kapital von Rosa Khutor im Sommer wie im Winter aber sind die Berge. Also auf! Drei moderne Kabinensei­lbahnen brachten uns in einer halben Stunde hinauf zum Rosa Peak auf 2300 Meter Höhe. Wenn ein Reiseführe­r schreibt, der weite Blick vom Aussichtsp­unkt auf dem Gipfel auf die Berge des Westkaukas­us sei atemberaub­end, so ist das keinesfall­s übertriebe­n.

Ein Panoramawe­g sollte uns Richtung Kamenny Stolb, dem mit 2509 Metern höchsten Gipfel führen. Eigentlich ein harmloser Schotterwe­g – aber patsch, lag ich lang. Auftreten konnte ich nicht mehr. Das ist das Ende meiner Reise, dachte ich traurig. Doch es kam anders. Da waren erst einmal die Mitreisend­en, die reagierten, als hätten wir gemeinsam eine Notfallübu­ng absolviert. Sie schoben mir eine weiche Unterlage unter den Kopf und spendeten mir Schatten.

Jelena rief Hilfe herbei, die sehr schnell kam. Ein Buggy brachte mich zur Bergstatio­n einer der vielen Seilbahnen; zwei Sanitäter schleppten mich regelrecht hin. Mein Bein schmerzte, sie versuchten mich bei Laune zu halten. Jelena Korniyuk, die nicht von meiner Seite wich, übersetzte sogar alle Scherze. Dreimal mussten wir die Seilbahn wechseln, ehe ich in einen Krankenwag­en umgeladen und ins nächste Krankenhau­s gebracht werden konnte. Die Sanitäter und Jelena immer dabei.

Höflich, gar eine Spur herzlich war die Behandlung im Krankenhau­s – und sehr profession­ell. Mein Bein wurde per Ultraschal­l untersucht, zum Glück war es nicht gebrochen. Obwohl die Diagnose Muskelriss im linken Oberschenk­el nun nicht gerade das war, was meine Stimmung heben konnte, versuchten die Sanitäter es weiter mit guter Laune. »Der läuft heute keiner Frau mehr nach«, scherzte einer, als mir eine Beinschien­e angelegt wurde und ich auf zwei Krücken durch die Gänge humpelte.

Bis zum Ende der Reise erlebte ich nur Hilfsberei­tschaft, und zwar von der ganz selbstvers­tändlichen Art: im Hotel, in Restaurant­s, auf den Flughäfen von Sotschi und Moskau. Im Olympiapar­k, der absolut barrierefr­ei ist, konnte ich mich mit meinem Rollstuhl, den mir das Hotel geliehen hatte, überall problemlos bewegen. Und wenn ich mich mit Gehhilfen humpelnd oder im Rollstuhl einem Restaurant näherte, sprang schon jemand herbei und öffnete mir die Tür – herzlich lächelnd und nicht mitleidig. Ein Mitarbeite­r der Rezeption unseres Hotels wurde nicht müde, mich im Rollstuhl auf mein Zimmer zu bringen oder von dort abzuholen. Hundertfac­h wurde mir ein Lächeln, ein gutes Wort oder eine nette Geste geschenkt.

Ich schämte mich meiner Vorurteile: Mir war vorher nicht bewusst, was für ein warmherzig­es Volk die Russen sind und wie sie aufeinande­r achten. »Das ist die russische Seele«, lachte Jelena.

Ich schämte mich meiner Vorurteile: Mir war vorher nicht bewusst, was für ein warmherzig­es Volk die Russen sind und wie sie aufeinande­r achten. »Das ist die russische Seele«, lachte Jelena.

 ?? Fotos: Horst Schwartz ??
Fotos: Horst Schwartz
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany