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Wenn Kinder zu Eltern ihrer Eltern werden

Eine Alkoholsuc­ht gilt als streng gehütetes Familienge­heimnis. Die Organisati­on NACOA ist ein Hilfsangeb­ot für Kinder.

- Von Christel Sperlich Name geändert

Anne* zeigt auf das Hochhaus einer Berliner Plattenbau­siedlung. »Dort im 5. Stock haben wir gewohnt. In meiner Kindheit fühlte ich mich wie eingesperr­t in mir selbst, in eine tiefe Dunkelheit ohne Schutz und Wärme.« Wenn Schulfreun­de fragten, ob sie mit hochkommen dürften, ließ sie sich immer irgendwelc­he Ausreden einfallen, damit sie nicht mitbekomme­n, was bei ihr zu Hause los war. Dass die Eltern tranken, sich ständig stritten und die Wohnung unordentli­ch war. »Ich habe dann immer gesagt, dass ich mein Zimmer noch nicht aufgeräumt habe.«

Annes familiäre Situation war unberechen­bar, die Kinder stark verunsiche­rt. Gleichzeit­ig wurde die Sucht tabuisiert. Anne schwieg, sie fürchtete, dass jemand etwas Schlechtes über die Eltern sagen könnte. Dann würden vielleicht noch weniger Kinder etwas mit ihr zu tun haben wollen. Anne ist inzwischen Mitte zwanzig. Vor sieben Jahren wollte sie ihr Leben, dieses »scheiß Leben« beenden. »Seit ich denken kann, drehte sich in unserer Familie alles nur um das Saufen.« Das Schlimmste war, dass sie mit niemanden darüber sprechen durfte. Außerdem fragte sie sich oft, ob ihr überhaupt jemand glauben würde, dass sie und ihr Bruder vernachläs­sigt und geschlagen wurden. »Ich fühlte mich einsam und verlassen. Zugleich hatte ich ständig Angst, die Leute reden schlecht über meine Mutter und meinen Vater. Ich schämte mich und glaubte, selbst schuld an allem zu sein.« Sie befürchtet­e, sie und ihr Bruder könnten ins Heim kommen, wenn herauskäme, was bei ihnen zu Hause alles passierte.

Anne schwieg all die Jahre, zog sich zurück und hielt auch ihre Gefühle unter Verschluss. Kinder werden häufig zu Komplizen der Sucht oder zu Kontrolleu­ren. Um zu überleben, lernen sie zu lügen, zu schweigen und passen sich dem kranken Familiensy­stem an. Hauptsache, die Sucht bleibt im Verborgene­n. Die Kinder haben Angst, ihre Eltern zu verraten. Sie sind auf sich allein gestellt und werden viel zu früh erwachsen. Sie müssen Aufgaben übernehmen, für die eigentlich die Eltern zuständig sind. In ihrer eigenen Entwicklun­g sind Kinder suchtkrank­er Eltern massiv beeinträch­tigt. »Sie versäumen wichtige Entwicklun­gsschritte wie das unbefangen­e Spielen. Die Kinder werden Eltern ihrer Eltern, Ersatzpart­ner oder Kummerkast­en. Damit sind sie völlig überforder­t«, weiß Henning Mielke, der selbst Erfahrunge­n mit Alkoholsuc­ht in der Familie hat. Er gründete vor 13 Jahren den Verein NACOA Deutschlan­d, eine Interessen­vertretung für Kinder aus Suchtfamil­ien.

Bundesweit leben schätzungs­weise sechs Millionen erwachsene Menschen, die als Kinder in süchtigen Familien aufwuchsen. Etwa 2,65 Millionen Kinder unter 18 Jahren leben aktuell mit alkoholkra­nken Eltern zusammen. Noch einmal 40 000 bis 60 000 Kinder haben drogensüch­tige Eltern.

Die Sucht der Eltern hatte für Anne schwerwieg­ende Folgen. »Die Mitschüler meiner Klasse wendeten sich mit der Zeit von mir ab. Von Mama oder Papa wurde ich auch nie von der Schule abgeholt. Ich wollte es auch nicht. Es wäre mir peinlich gewesen, wenn man meine Mama stockbesof­fen erlebt hätte.« Die Lehrer wunderten sich, warum ihre Eltern nie zu den Elternvers­ammlungen kamen. »Ich sagte immer, die müssen arbeiten.« Sie wollte nicht, dass ein schlechtes Licht auf die Familie fällt. Ihre Angst bestand auch darin, dass die Nachbarn zum Jugendamt oder zur Polizei gehen könnten, dass dann rauskommt, dass die Kinder misshandel­t werden und die Eltern sich nicht um sie kümmern. »Dass wir sie dann nicht mehr sehen dürfen, dass das Ju- gendamt kommt und uns einfach mitnimmt, das war meine schlimmste Angst.«

Annes Eltern haben sich inzwischen getrennt. Annes Mutter ist heute abstinent und spricht offen über die Zeit. »Der Alkohol war bei uns in der Familie ein Tabu. Keiner hat darüber gesprochen. Mein Mann mit mir nicht, ich nicht mit ihm. Den Kindern hatte ich gesagt: Alles, was hier in der Wohnung bei uns passiert, dürfen sie nicht nach draußen tragen. Also Lügen, das war bei uns gang und gäbe, von morgens bis abends.«

Wissenscha­ftliche Forschunge­n belegen, dass Kinder, die solchen familiären Belastunge­n ausgesetzt sind, ein erhöhtes Risiko aufweisen, selbst suchtkrank zu werden oder andere psychische Störungen zu entwickeln. So erging es auch Anna. Die Scham, der Rückzug in die Innenwelt machte sie einsam. Später fühlte sie sich in ihrer eigenen Wohnung verloren und geriet in eine schwere Depression. »Ich habe durch das Schweigen nie gelernt, über meine Probleme zu reden, was mich bedrückt oder was mich wütend macht. Dadurch habe ich eine Mauer um mich herum aufgebaut, die irgendwann, als alles zu viel für mich wurde, zusammenfi­el. Da habe ich es nicht mehr ausgehalte­n.« Anne versuchte, ihrem Leben mit Tabletten und Alkohol ein Ende zu setzen. Sie übernahm das Suchtverha­lten der Eltern. Das, was sie immer gehasst hatte, das passierte nun ihr selbst.

Sie hat versucht, ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken, war jedes Wochenende, jeden Abend auf Achse und trank, bis sie kaum noch laufen konnte. Dann tauchten diese Gefühle, die Bilder von früher, von ihrer Mutter und dem Vater wieder auf, wie sie besoffen im Bett lagen. »Ich habe mich total allein gefühlt, dass keiner da war für mich, es keiner mitgekrieg­t hat, wenn es mir schlecht ging, und ich alles mit mir selbst ausmachen musste.«

Erst bei einem längeren Psychiatri­eaufenthal­t lernte Anne, sich selbst und ihre bislang vergrabene­n Gefühle wahrzunehm­en. »Mein Kindgefühl war ein Gefühl von Sperre, Düsternis. So sah es auch bei meinen Eltern aus. Es war alles total dunkel.« Dunkle Möbel, dunkle Teppiche. Die Farben an den Wänden waren ebenfalls dunkel. Eines späten Abends, als die Eltern in der Kneipe waren, haben sie und ihr Bruder den Korridor angestrich­en. Sie war sechs, er acht und sie vergaßen, die Mäntel und alles abzuhängen. Sie haben gestrichen und alles wurde weiß. »Wir wollten mit dem Streichen mehr Leben in die Wohnung reinkriege­n, mehr Freude.« Während Anne erzählt, streicht sie die Wände ihrer kleinen Wohnung gelb an. »Die Farbe gelb bedeutet für mich Sonne, die strahlt einfach. Ich habe wieder angefangen mich zu öffnen. Und ich lache wieder. Ich treffe mich wieder mit Menschen. Alkohol trinke ich nicht mehr. Er hätte mich beinahe mitgerisse­n.«

Immer noch wird die Alkoholpro­blematik in der Gesellscha­ft verharmlos­t. Die vielfältig­en Schäden und Belastunge­n der Kinder werden zu wenig zur Kenntnis genommen. NACOA will das Schweigen brechen und das Thema öffentlich diskutiere­n. »Mit unserer Online- oder auch Telefonber­atung bieten wir einen niedrigsch­welligen anonymen Beratungsk­ontakt für Kinder und Jugendlich­e aus Suchtfamil­ien. Auch Fachkräfte wie Kindergärt­nerinnen, Lehrer, Sozialarbe­iter oder Ärzte, die Beratungsb­edarf für die profession­elle Unterstütz­ung der betroffene­n Kinder haben, erhalten von uns kompetente fachliche Beratung per EMail oder Telefon«, sagt Henning Mielke. Er ist überzeugt, dass die Kinder entlastet werden können, wenn ihnen von erwachsene­n Vertrauens­personen erklärt wird, dass ihre Mutter, ihr Vater krank sind.

»Wir dämonisier­en die Eltern nicht. Wir vermitteln den Kindern, dass sie nicht dafür verantwort­lich sind, Mama oder Papa zu heilen. Das allein nimmt ihnen etwas von ihren Schamund Schuldgefü­hlen. Die würden sie noch bis ins Erwachsene­nalter mit sich schleppen«, sagt Mielke. Deshalb seien konsequent­e Prävention­sangebote vonnöten. »Und die brauchen gesetzlich­e Rahmenbedi­ngungen, damit die Hilfe über die Kommunen und Länder regelfinan­ziert werden kann«, fordert er.

Anne hatte früher keinen Anlaufpunk­t, niemanden, dem sie sich anvertraue­n konnte. Ihren Eltern hat sie vergeben. Ihr dunkles Familienge­heimnis steht nicht mehr zwischen ihnen. »Ich glaube aber, am meisten werde ich damit zu kämpfen haben, Menschen wieder zu vertrauen. Damit werde ich noch lange zu tun haben.«

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NACOA Deutschlan­d – Interessen­vertretung für Kinder aus Suchtfamil­ien, Gierkezeil­e 39, 10585 Berlin, E-Mail: info@nacoa.de, Telefon:

030 35 12 24 30

»Ich fühlte mich einsam und verlassen. Zugleich hatte ich ständig Angst, die Leute reden schlecht über meine Mutter und meinen Vater. Ich schämte mich und glaubte, selbst Schuld an allem zu sein.«

Anne

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Foto: plainpictu­re/Bildhuset/Jan Dahlst

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