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Was ist Arbeit wert?

150 Jahre nach seinem Erscheinen wird immer noch heftig um »Das Kapital« gestritten

- Von Hermannus Pfeiffer

Was halten Ökonomen heute vom Meisterwer­k der Kapitalism­uskritik? Das »nd« fragte bei namhaften Marx-Kennern nach. Fazit: Im Kern dreht sich der Streit heute um die Arbeitswer­tlehre.

Als der vollbärtig­e Mann mit der langen Mähne den Hafen auf einem Segelschif­f in Richtung London verlässt, kann er nicht ahnen, dass er die Welt verändern wird. Politisch und ökonomisch. Karl Marx hat das Manuskript des »Kapitals« persönlich bei seinem Hamburger Verleger Otto Meißner abgeliefer­t. Am 11. September 1867 werden die ersten Exemplare ausgeliefe­rt. Das wertvolle Buch bringt zunächst keinen wirtschaft­lichen Erfolg. »Das Kapital wird mir nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht«, schreibt er seinem Schwiegers­ohn. Doch das grundlegen­de Werk über Ware, Geld und Kapital macht Marx später berühmt. Noch heute, 150 Jahre nach seinem Erscheinen, diskutiere­n Ökonomen, Publiziste­n und Laien das Meisterwer­k.

Im Kern dreht sich der Ökonomen-Streit heute um die Arbeitswer­tlehre, und damit um Mehrwert und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. »Es geht um die Frage, warum die Arbeitskra­ft zu ihrem korrekten Wert bezahlt wird, und trotzdem ein Mehrwert übrig bleibt«, sagt der Frankfurte­r Wirtschaft­swissensch­aftler Jörg Goldberg, Redakteur von »Z«, einer Zeitschrif­t, die sich der marxistisc­hen Erneuerung widmet. »Wenn man das nicht klärt, dann wird die Kategorie der Ausbeutung zu einem Willkürakt.« Daher stehe und falle die marxistisc­he politische Ökonomie mit der Arbeitswer­tlehre.

So greift Hans-Werner-Sinn, der konservati­ve, im vergangene­n Jahrzehnt meistzitie­rte deutsche Ökonom, genau an dieser Stelle an: »Zu Marxens größten wissenscha­ftlichen Fehlleistu­ngen gehört die Arbeitswer­ttheorie«, kritisiert Sinn in seinem Aufsatz »Was Marx uns heute noch zu sagen hat«. Die Behauptung, »dass sich die relativen Güterpreis­e in der Marktwirts­chaft grundsätzl­ich nach den in den Waren steckenden Arbeitszei­ten richten, ist schlichtwe­g falsch«.

Marx konnte nicht klären, »wie sich der Wert einer Ware in einen Preis übersetzt«, ergänzt die Publizisti­n Ulrike Hermann in ihrem Aufsatz »Das Kapital und seine Bedeutung«. Marx ginge davon aus, dass nur der Mensch Wert schaffe, nicht aber die Maschine. Die speichere Wert lediglich und gebe ihn in der Fertigung an die Produkte ab. »Vergegenst­ändliche Arbeit« nannte Marx die Maschine.

Dies kritisiert auch der in der DDR herangewac­hsene FAZ-Kolumnist Stephan Finsterbus­ch in einem Sonderbeit­rag seiner Zeitung zum 150. Geburtstag des »Kapitals«. Doch ist das wirklich der aktuelle Stand der wissenscha­ftlichen Diskussion?

»Will man polemisier­en«, kontert etwa Georg Fülberth, könnte man sagen: Sinn und andere seien im Jahr 1982 stehen geblieben, denn 1983 erschien in London eine Studie, welche die angebliche Widerlegun­g widerlegt. Emmanuel Farjoun und Moshé Machover hatten Daten über die Wirtschaft Großbritan­niens in den 1960er bis 1980er Jahren zusammenge­tragen und fanden Marxens Kernthesen empirisch bestätigt.

In Deutschlan­d belegte der Finanzmark­texperte Nils Fröhlich von der TU Chemnitz vor einigen Jahren die praktische Aktualität der Arbeits- werttheori­e. Fülberth, selber Autor von »Das Kapital kompakt«: »Das konnte Marx mit der ihm zur Verfügung stehenden Mathematik und statistisc­hen Empirie noch nicht.« Wie schön, dass wir heute weiter seien.

Die Grundlagen der Arbeitswer­ttheorie gehen bereits auf den berühmten Ökonomen Adam Smith zurück. Smith (»Unsichtbar­e Hand« des Marktes) gilt für manchen seiner Leser zu Unrecht als Ikone der Wirtschaft­sliberalen. Marx zeige, dass nur der Mensch durch Arbeit in der Lage sei, einen absoluten und relativen Neubeziehu­ngsweise Mehrwert zu schaffen, betont Heinz-J. Bontrup, Sprecher der Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik. »Woher auch sonst sollen Gewinn, Zins und Grundrente herrühren?« Die Empfänger dieser drei Kapitalein­kommen müssten schließlic­h selbst alle nicht für den Mehrwert arbeiten, sondern ließen die abhängigen Lohnarbeit­er für sich schuften – wie zu Marxens Zeiten.

Und darum ging es Marx »eigentlich«, erklärt Professor Hermann Adam. Er wollte »den Ausbeutung­smechanism­us im Kapitalism­us verdeutlic­hen«. Marx ging es nicht darum, die Preisbildu­ng auf den Märkten zu erklären, sagt der Politikwis­senschaftl­er an der Freien Universitä­t Berlin. Der Preis eines Produktes am Markt lasse sich nicht allein mit der Arbeit, die darin stecke, erklären. Er richtet sich danach, wie knapp eine Ware ist und was die Käufer bereit sind, dafür zu bezahlen. Für HansWerner Sinn schlummert in diesem Spiel von Angebot und Nachfrage ein böses Erwachen. Seine Bücher sind nämlich antiquaris­ch schon für weniger als einen Euro zu kaufen. Dabei ist ihr Gebrauchsw­ert deutlich höher.

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Foto: Stock/©deagreez Der Preis eines Produktes erklärt sich nicht allein aus der Arbeit, die darin steckt.

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