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Traum und Albtraum

Die Serie »The Deuce« um die Anfänge der US-Pornoindus­trie ist mehr als ein Kostümfest

- Von Jan Freitag Verfügbar auf Sky

Der amerikanis­che Traum ist seit jeher auch ein Albtraum für andere. Indigine, Sklaven, Linke, Bisons können ein Lied davon singen, was seine Verwirklic­hung bewirkt – und sei es für US-Amerikaner selbst. Man braucht nur mal Martin Scorceses Einwanderu­ngsdrama »Gangs of New York« zu sehen – oder, brandneu: die Unterhaltu­ngsserie »The Deuce«. Nach seiner Echtzeitdy­stopie »The Wire« sprengt HBO-Showrunner David Simon seit heute früh auf allen Sky-Kanälen den Rest dessen, was Wirtschaft­skrise und Vietnamkri­eg vor 46 Jahren vom amerikanis­chen Traum übrig gelassen haben. Viel ist es nicht.

1971 herrscht rings um den Broadway Anarchie: ausgerechn­et das Fernsehen hat dafür gesorgt, dass die Mittelklas­sekultur aus Theatern, Restaurant­s und Tanzläden am Times Square durch Stundenhot­els, Fastfood und Tabledance ersetzt wurde. Es herrscht das Gesetz der Straße, also gar keines. Und genau hier leitet Vinnie Martino einen Treffpunkt für Halbweltbe­wohner jeder Art. Während sich Amerikas Traum vor der Tür in skrupellos­er Triebabfuh­r auflöst, bietet der leutselige Barkeeper dahinter einen Rückzugsor­t vom Höllenpfuh­l da draußen. Und er wird bereits vom nächsten Brandherd befeuert: Sexfilme. Kurz nach deren Legalisier­ung scheint die Pornoindus­trie New Yorks Prostituie­rten zwar einen Weg aus der Gewaltspir­ale zu weisen; tatsächlic­h verwahrlos­t das Viertel nur noch mehr, bevor ihm Aids den Rest gibt. Und so endet auch Vinnies gut gemeinter Versuch, die Frauen aus dem Würgegriff der Zuhälter ins vermeintli­ch saubere Pornogesch­äft zu holen, im Verderben. Dass man trotzdem gebannt zusieht, muss also andere Gründe haben als die Aussicht aufs Entertainm­ent mit Happyend.

Da wäre zum einen James Franco. Teilweise unter eigener Regie erschafft der ausführend­e Produzent von »The Deuce« in seiner Doppelroll­e als Vinnie und dessen Bruder Frankie zutiefst verschiede­ne Antihelden, die stets haarscharf am Rand der Legalität ihr Glück suchen und dabei oft im Gegenteil landen. Zugleich sorgen Maggie Gyllenhaal als arme, aber selbstbest­immte Hure Candy oder Margarita Levievas Kiezkind aus gutem Hause Abby neben all den fiesen Freiern, noch fieseren Zuhältern und korrupten Bullen für etwas Optimismus im Desaster. Bedeutende­r aber ist wie so oft im Historytai­nment die Ausstattun­g.

Und da leisten die wechselnde­n Regisseure wechselnde­r Drehbuchau­toren nach einer wahren Geschichte Erstaunlic­hes. Anders als in zeitge- schichtlic­her Fiktion aus Deutschlan­d nämlich wirkt die Szenerie nie museal, sondern authentisc­h. Gut, manchmal sehen auch die US-Protagonis­ten aus wie Schaufenst­erpuppen, aber hey – im Zweifel sind es ja auch Pornostars, Gangster, Bordsteins­chwalben, die ihre Fasanenfed­ern oder Glitzersto­las spazieren führen. In Schlaghose­nprosa wie der ZDF-Serie »Zarah« hingegen sehen auch Kanalarbei­ter aus wie Kanarienvö­gel. Hierzuland­e käme daher kein Regisseur auf die Idee, einer Hauptfigur so furchtbare­s Haar zu verpassen wie Frankie oder seinem Bruder ein weißes Hemd, wo es doch so schön bunte gab.

Die Kulisse quietscht also nicht vor Nostalgie, sie wirkt wie ihre Ära: verstörend, grau, konfus. Sex wird in einer Serie über dessen Kommerzial­isierung zwar durchaus explizit ge- zeigt; gleich zu Beginn etwa ist ein erigierter Penis beim sehr glaubhafte­n Blowjob zu sehen. Doch anders als im handelsübl­ichen Renaissanc­e-Epos der Marke »Borgia« etwa dient das dauernde Kopulieren stets der Handlung, keinem Effekt. Und im Hintergrun­d laufen einfach Lieder statt Hits. Dank dieser sensorisch­en Zurückhalt­ung erinnert »The Deuce« weniger an das legendäre »Studio 54«, dem Mark Christophe­r 1998 ein glitzernde­s Kinodenkma­l gesetzt hat, sondern an Robert de Niros »Taxi Driver«, der 1976 zuvor ungefähr dort mit dem Abschaum aufräumt, wo nun die Brüder Martino im Trüben fischen. Travis Bickle könnte daher jederzeit in Vinnies Bar auftauchen. Er fiele nicht weiter auf.

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Foto: HBO Vinnies (James Franco, Mi.) Versuch, die Prostituie­rten aus dem Würgegriff ihrer Zuhälter ins vermeintli­ch saubere Pornogesch­äft zu holen, scheitert

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