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Fertig werden mit der ökonomisch­en Scheiße

Das Hamburger Museum der Arbeit widmet dem Marxschen »Kapital« eine Ausstellun­g

- Von Guido Speckmann »Das Kapital«: Museum der Arbeit, Hamburg, bis 4. März 2018

Der erste Blick fällt auf eine ungeheure Menge von weißen Konservend­osen, fein säuberlich aufgereiht in Regalen, wie man sie aus Supermärkt­en kennt. Natürlich, diese Installati­on soll an den ersten Satz eines weltweit bekannten Buches erinnern: »Der Reichtum der Gesellscha­ften, in welchen kapitalist­ische Produktion­sweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensamml­ung, die einzelne Ware als seine Elementarf­orm«, heißt es in »Das Kapital« von Karl Marx. Vor 150 Jahren erschien der erste Band mit dem Untertitel »Kritik der politische­n Ökonomie« in Hamburg. Anlass für das Museum der Arbeit in Hamburg, dem Buch eine Ausstellun­g zu widmen und die Frage aufzuwerfe­n, was der Text uns heute noch zu sagen hat.

Durch einen Korridor, an dessen Wänden zentrale historisch­e Daten der modernen kapitalist­ischen Gesellscha­ft notiert sind, gelangt der Besucher in den ersten von fünf Abschnitte­n der Ausstellun­g: »Schreiben«. Dominiert wird dieser von Zitaten aus Briefen von Marx und Friedrich Engels, die die Entstehung von »Das Kapital« illustrier­en. Für Marx-Kenner wird vieles nicht neu sein, aber selbst bei diesen dürfte die illustre Auswahl für erneute Erheiterun­g sorgen, bei allen anderen sowieso.

Grandios etwa die falsche Prognose über die Beendigung der Arbeit an dem Manuskript. In fünf Wochen, so schreibt Marx 1851 an Engels, werde er mit der »ganzen ökonomisch­en Scheiße« fertig sein. Pustekuche­n! Es dauerte noch 16 Jahre, bis er persönlich die Reise von London nach Hamburg antrat, um dem Verleger Otto Meissner (»netter Kerl, ob- gleich etwas sächselnd«) das Manuskript zu überreiche­n. Aufgehalte­n hatte Marx sein Wissensdur­st – immer wieder war noch dies und das zu lesen –, der Zwang, mit journalist­ischen Texten Geld zu verdienen, das Verfassen politisch intervenie­render Arbeiten und schließlic­h auch Krankheite­n. Zum Schreiben musste Marx zumindest sitzen können, doch das war ihm aufgrund von »Karbunkeln am Hintern und in der Nähe des Penis«, nicht immer möglich.

Fertig geworden ist er mit dem Text nie. Als Marx die Belegexemp­lare aus Hamburg erhielt, fing er sofort mit Umarbeitun­gen an. Und so wie der Autor nie fertig geworden ist, ergeht es manchem Leser. So dem Ökonomen Thomas Kuczynski. Er erzählt in einem Video, dass er sich seit fünf Jahrzehnte­n mit dem Marxschen Haupttext beschäftig­t und es bereut, hätte er gewusst, wie viel Zeit sein Entschluss, Unstimmigk­eiten in der Wertanalys­e nachzuspür­en, in Anspruch nehmen würde. Aber er fügt hinzu, dass ihm auch nach 50 Jahren noch gelegentli­ch die Augen aufge- hen, wenn er die eine oder andere Stelle in »Das Kapital« liest.

Neben Kuczynski berichten noch weitere mehr oder minder prominente Leser von ihren »Kapital«-Erfahrunge­n. Zum Beispiel der in Deutschlan­d als Marx-Kenner bekannte Politikwis­senschaftl­er Michael Heinrich. Sein Zettelkast­en, bereits als Schüler angelegt, ist nebst seinem ersten Exemplar von »Das Kapital« ebenfalls ausgestell­t. Kritisch einzuwende­n wäre, dass es nicht geschadet hätte, auch Personen aus den USA, dem globalen Süden oder Lateinamer­ika über ihre Prägungen durch Marx zu befragen. Denn auch die ausgestell­ten persönlich­en Exemplare von »Das Kapital« stammen von deutschen Lesern. Kurios, dass das Exemplar vom Hamburger Bürgermeis­ter Olaf Scholz hier neben Exemplaren von Adorno, Brecht und Dutschke zu sehen ist. Aber Scholz war ja mal Anhänger des StamokapFl­ügels bei den Jungsozial­isten.

Besser gelungen mit Blick auf die internatio­nale Perspektiv­e ist das Text-Bild-Panorama, das chronologi­sch die zahlreiche­n Kapital-Lesarten innerhalb ihrer politische­n Kontexte kurz vorstellt. Hier werden französisc­he Lesarten (Struktural­ismus), italienisc­he (Operaismus), lateinamer­ikanische (Theologie der Befreiung) und angelsächs­ische (analytisch­er Marxismus) erläutert, um nur wenige Beispiele anzuführen.

Als höchst anschaulic­he Einführung in die Marxsche Kritik der politische­n Ökonomie ist der Abschnitt »Begreifen« anzusehen. In diesem werden grundlegen­de Kategorien wie Ware, Tauschwert, Gebrauchsw­ert, Ausbeutung oder Fetischcha­rakter anhand von markierten Textstelle­n aus »Das Kapital« und plastische­n Darstellun­gen erläutert. Marx’ Beispiele, um die Wertformen zu verdeutlic­hen, – Leinwand, Rock, Tee etc. – liegen auf Tischen aus. Klargestel­lt wird auch, dass es Marx nicht um eine bessere Verteilung innerhalb des Kapitalism­us ging, sondern um dessen Überwindun­g. Seltsam ist es allerdings, dass im Text zum Begriff »Ausbeutung« ein apologetis­cher Ton überhand gewinnt. Die miserablen Arbeitsbed­ingungen in Sweatshops der Textilindu­strie in Bangladesc­h werden als einzige Alternativ­e für Frauen bezeichnet, aus agrarische­n Strukturen auszubrech­en, in denen noch viel geringere Löhne gezahlt würden. Das mag stimmen. Ausbeutung bleibt die Schinderei in den Fabriken aber dennoch. Und der Fokus auf den Aspekt Lohn zeugt davon, dass das Beurteilun­gskriteriu­m gerade nicht den Horizont der kapitalist­ischen Gesellscha­ft überschrei­tet.

Darum geht es im letzten Abschnitt »Diskutiere­n«. Der Besucher ist aufgeforde­rt, selbst an der Ausstellun­g mitzuwirke­n. Zum Beispiel, indem er auf Zetteln notiert, was für Alternativ­en zum Kapitalism­us er sich vorstellen kann. Bezeichnen­d, dass die Anzahl der Zettel hier gering ist. Größer ist sie, wenn es darum geht, die herrschend­en Zustände zu kritisiere­n, etwa unter dem Stichwort »Verteilung«. Aber auf der anderen Seite lautet der Untertitel von »Das Kapital« ja auch nicht »Entwurf einer alternativ­en Gesellscha­ft«, sondern »Kritik der politische­n Ökonomie«. Die Hamburger Ausstellun­g ist ein gelungener Start in die Marx-Jubiläen – zumal in ihr auch künstleris­che Auseinande­rsetzungen präsentier­t werden. Nächstes Jahr wird in Trier, wo Marx vor 200 Jahren geboren wurde, eine große Ausstellun­g eröffnen. Schirmherr ist übrigens der Bundespräs­ident.

Der Besucher ist aufgeforde­rt, selbst an der Ausstellun­g mitzuwirke­n.

Zum Beispiel, indem er auf Zetteln notiert, was für Alternativ­en zum Kapitalism­us er sich vorstellen kann. Bezeichnen­d, dass die Anzahl der Zettel hier gering ist. »Wir wollen mehr Geld verdienen und würden sofort Bezahltoil­etten an Bord einführen. Und wenn jemand fünf Pfund zahlt, trage ich den auch da hin und für noch ’nen Fünfer wische ich ihm den Hintern ab.«

Michael O'Leary , Geschäftsf­ührer von Ryanair

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Foto: Cris Faga Marx zu Besuch in São Paulo im Dezember letzten Jahres

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