Von Bessergestellten für Bessergestellte
Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer über soziale Spaltung und ungleiche politische Repräsentation
Mit Ihren Untersuchungen stellen Sie der Demokratie ein Armutszeugnis aus: Die Verkäuferin im Supermarkt oder der Mitarbeiter des Fast-Food-Restaurants haben kaum eine Chance, dass ihre Anliegen vom Bundestag umgesetzt werden. Wollen »die da unten« bei Themen wie private Altersvorsorge oder Afghanistan wirklich etwas anderes als »die da oben«?
Nicht bei jedem einzelnen Punkt finden wir, dass Oben und Unten, Arm und Reich völlig unterschiedlicher Meinung sind. Aber wir finden schon klare Muster: Je weiter Menschen beim Einkommen auseinander liegen, desto größer sind auch die Meinungsunterschiede zwischen diesen Personen. Das erlaubt eine Analyse, welche Präferenzen umgesetzt werden.
Je größer der Abstand zwischen den Einkommen ist, desto unterschiedlicher sind also die Einstellungen? Im Durchschnitt, ja. Es gibt aber einzelne Fragen, da sind fast alle einer Meinung. Beispielsweise war der Widerstand gegen die Einführung der Rente mit 67 recht einhellig. Bei der Frage, soll die Vermögensteuer wieder eingeführt werden, findet man dagegen ein klares Muster, dass Reichere das ablehnen und Ärmere das wollen. Und bei der Einführung der Riester-Rente war es genau anders herum.
Meinungsverschiedenheiten zwischen Unten und Oben sind das Eine. Doch werden die »Armen« und ihre Anliegen im Bundestag auch untergebuttert?
Zumindest können wir über einen Zeitraum von 20, 25 Jahren zeigen, dass es einen klaren Zusammenhang gibt zwischen dem, was Reiche wollen, und den tatsächlich getroffenen politischen Entscheidungen. Aber es gibt keinen Zusammenhang mit den Präferenzen der Ärmeren. Was sich diese besonders wünschen, wird eben politisch nicht umgesetzt.
Heißt das auch, eine Veränderung der Politik ist sehr viel wahrscheinlicher, wenn Hochschulprofessoren wie Sie oder Börsenmakler diese befürworten?
Ja, das ist richtig.
Die Schieflage scheint in der Wirtschafts- und Sozialpolitik besonders ausgeprägt.
Ja. In diesem Bereich finden wir sowohl deutliche Meinungsunterschiede als eben auch Unterschiede in der Responsivität – das ist der Fachbegriff, mit dem wir die Reaktion der Politik auf solche Präferenzen bezeichnen. In der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist dies besonders relevant, weil es unmittelbare Rückwirkungen auf Verteilungsfragen hat. Was wiederum die Unterschiede zwischen Arm und Reich vergrößert – so dass ein Kreislauf aus wachsender sozialer Ungleichheit, ungleicher politischer Beteiligung und dann ungleicher Repräsentation der verschiedenen Anliegen im Bundestag stattfinden kann.
»Gefühlt« dürften Ihnen viele LeserInnen zustimmen – doch woran machen Sie die Repräsentationsdefizite in Bundestag und Regierung fest?
Unser Anliegen war es, etwas, was viele Menschen vermuten, empirisch abzusichern. Das Repräsentationsdefizit kann man an zwei Punkten festmachen: Das eine sind die Menschen, die uns im Bundestag repräsentieren. Dort finden wir über die Zeit eine deutliche Verschiebung hin zu denjenigen, die studiert haben. Es gibt immer mehr Akademiker im Bundestag, aber immer weniger Menschen mit Berufsausbildung, Arbeiterinnen und Arbeiter. Das andere sind die Entscheidungen, die tatsächlich getroffen werden. Die Bessergestellten, die im Bundestag sitzen, treffen eben auch Entscheidungen, die sich mit den Wünschen derer decken, denen es ebenfalls besser geht in unserer Gesellschaft.
Wie haben Sie dies untersucht?
Wir haben Umfragen im Zeitraum von 1980 bis 2013 nach verschiedenen Kriterien ausgewertet. In unserer Datenbank haben wir 800 Sachfragen. Dann haben wir in einem zweiten Schritt geschaut, wie hat sich die Gesetzgebung in diesen Punkten verändert oder nicht, um zu sehen, wessen Präferenzen umgesetzt werden.
Die Zusammensetzung des Bundestags ist eine Erklärung. Da Parteispenden hierzulande nicht die Rolle spielen wie zum Beispiel in den USA: Welche Übertragungsmechanismen sehen Sie? Ehrlich gesagt, das ist noch eine Leerstelle. Einige Vermutungen: Lobbyismus und Parteispenden von großen Firmen sind umfangreicher als von Privatpersonen, die Parlamentarier werden sich immer ähnlicher. Dies zu klären wird ein Nachfolgeprojekt.
Welche Rolle spielt die geringe Wahlbeteiligung »der da unten«. Das war der Ausgangspunkt für das ganze Projekt. Ich fragte mich, wie sich die soziale Spaltung bei der Wahlbeteiligung auswirkt.
Ist dies nicht ein Geburtsfehler unserer parlamentarischen Demokratie – der erst heute so richtig spürbar wird, weil die soziale Kluft tiefer geworden ist?
Ein Muss ist das nicht. In der Vergangenheit waren die Beteiligungsunterschiede zwischen Oben und Unten sehr viel geringer. Und Länder wie beispielsweise Dänemark, die sozial egalitärer sind, haben nicht nur eine höhere Wahlbeteiligung, sondern sind auch weniger ungleich. Es ist also kein Naturgesetz der Demokratie, dass die Unterschiede so groß sind wie in Deutschland.
Man kann also nicht von einem internationalen Trend sprechen?
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und der Ungleichheit bei der Beteiligung an Wahlen. Es gibt sehr ungleiche Länder wie USA, Großbritannien oder inzwischen auch Portugal. Aber es gibt auch egalitärere Länder, die es schaffen, die Beteiligungsunterschiede bei einer hohen Wahlbeteiligung gering zu halten. Sozial gleichere Länder sind auch politisch gleicher.
Eine hohe Beteiligung an der Bundestagswahl könnte also vieles ändern?
Ja, aber nicht sofort. Wir reden über Trends, die sich über mehrere Wahlperioden etablieren. Um die Beteiligungsunterschiede deutlich zu reduzieren, bräuchten wir eine Wahlbeteiligung von mindestens 85 Prozent. Verkäuferinnen und Fensterputzer wählen seltener als Rechtsanwälte und Banker, sind auch in politischen Parteien seltener vertreten. Warum? Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer ging zusammen mit der Volkswirtin Lea Elsässer im Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln dieser Frage nach.
Mit dem Professoren an der Universität Osnabrück sprach Hermannus Pfeiffer.