nd.DerTag

Neue Massenbewe­gung

In den Vereinigte­n Staaten machen sich die Demokratis­chen Sozialiste­n daran, eine Massenbewe­gung aufzubauen

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Sie sind jung, sie sind cool – sie sind Sozialiste­n in den USA.

Als Vertreter der jungen Generation die im letzten Jahr DSA beigetrete­n ist, kannst Du uns ein bisschen über Dich erzählen? Wann bist Du eingetrete­n und warum?

Naja, ich weiß nicht ob ich ein »Vertreter« bin. Es stimmt zwar, dass die meisten Neueintrit­te eher jung sind, aber wir kommen aus ganz verschiede­nen Ecken. Ich bin schon seit vielen Jahren Sozialist, meine Mutter ist Arbeitsrec­htlerin und dadurch kam ich mit linksliber­alen Milieus und der Arbeiterbe­wegung in Berührung, aber mir fehlte eine richtige Analyse. Als ich während meines Studiums den Marxismus entdeckte, habe ich zunehmend gemerkt, dass das, was ich in den Vorlesunge­n lernte, sehr beschränkt und neoliberal war. Ich wurde sozusagen ein Sozialist in meinem Kopf, aber ich kannte keine anderen Sozialiste­n, und fand die bestehende­n sozialisti­schen Organisati­onen nicht ansprechen­d. In der Gewerkscha­fts- und Non-Profit-Arbeit für die ich mich interessie­rte sprach niemand vom Sozialismu­s.

Hat sich das geändert?

Als die Bernie Sanders-Kampagne anfing hatte ich bloß einen Freund, der sich als Sozialist bezeichnet­e, und nun sind wir in einer Situation, wo Zehntausen­de junge, coole Menschen sich als Sozialiste­n verstehen, zu uns kommen und reden wollen. Es hat mir die Augen geöffnet zu sehen wie populär Sanders’ Kampagne und seine Themen wurden, und wie oberflächl­ich meine Organizing-Arbeit im NonProfit-Bereich im Vergleich dazu war. In der Kampagne haben sich Leute wirklich politisier­t und sich über Sozialismu­s und Klasse unterhalte­n. Nach der Wahl Trumps haben wir ja alle gesehen, wie plötzlich Tausende Menschen in die DSA eintraten, und ich dachte mir, wenn Tausende Menschen wirklich Mitglied werden, hätten sie das Potenzial, etwas Echtes zu organisier­en und echte politische Macht aufzubauen. Ich bin an diesem Punkt eingetrete­n und besuchte am 12. November mein erstes Ortsgruppe­ntreffen, seitdem arbeite ich vermutlich über 30 Stunden pro Woche für DSA.

Die Rhetorik auf dem Kongress ist geprägt von der Vorstellun­g einer tiefgehend­en Transforma­tion der jetzigen Gesellscha­ft. Glaubst Du, dass die vielen Menschen, die in den letzten Monaten eingetrete­n sind, diese Vision teilen? Oder sind es eher Menschen die über die Demokratis­che Partei frustriert sind und, zum Beispiel, einen robusteren Wohlfahrts­staat wollen?

Das weiß ich nicht so genau. Ich glaube es gibt Leute wie mich, die könnte man »heimliche Sozialiste­n« nennen, die praktisch darauf gewartet haben, organisier­t zu werden. Natürlich gibt es auch viele Menschen, die von Sanders inspiriert oder von Trump abgeschrec­kt wurden. Es gibt ein wirklich breites Spektrum an Menschen hier, wie Joanna Misnik, eine Trotzkisti­n, die Jahrzehnte lang eine robuste Kritik an der DSA äußerte, aber gestern sagte, dass man jetzt dabei sein muss. Dazu gibt es natürlich viele Leute, die gekommen sind, weil sie es cool finden, oder weil sie hier Freunde treffen, oder weil es sich aufregend oder bedeutsam anfühlt.

Wie kann aus der DSA eine etablierte Bewegung entstehen?

In den kommenden Monaten und Jahren werden wir die verschiede­nen Gründe und Motivation­en der neuen Mitglieder artikulier­en müssen und anfangen zu lernen, wie wir zusammenar­beiten können. Wir müssen sowohl die Menschen, die zu uns gekommen sind, als auch die vielen, die noch nicht dabei sind, mit einer langfristi­gen Vision einer »linken« oder »klassenkäm­pferischen« Sozialdemo­kratie zusammenfü­hren. Dies wird ein langer Prozess von Reifung und Organisier­ung sein, die sowohl langweilig­e, administra­tive Arbeit beinhaltet als auch die aktivistis­che, organisier­ende Seite, die Spaß macht.

Eine bundesweit­e Kampagne für eine einheitlic­he Krankenkas­se (»Medicare for all«) scheint ein Hauptproje­kt der Organisati­on zu sein. Wie trifft ihr solche Entscheidu­ngen und wie soll das konkret aussehen? Weil die DSA so dezentral strukturie­rt ist, können wir auf dem Kongress bloß beschließe­n, die Kampagne als eine »bundesweit­e Priorität« zu setzen. Dies bedeutet, dass die Bundeseben­e der Organisati­on dafür Mittel und Personal zur Verfügung stellt, aber die Ortsgruppe­n dürfen sich bei allen möglichen Kampagnen einbringen, wie beim Umweltschu­tz, Polizeigew­alt oder Mindestloh­n. Ich halte die Kampagne für wichtig, weil wir, erstens, eine Kohäsion innerhalb DSA herstellen müssen. Wir brauchen eine kohärente bundesweit­e Kampagne damit DSA-Mitglieder im ganzen Land miteinande­r arbeiten können und voneinande­r lernen können. Die Sozialiste­n müssen ein einheitlic­hes politische­s Programm vorstellen können, das sie mit den 13 Millionen Sanders-Wählern in Verbindung bringt, aber auch mit Menschen aus der Arbeiterkl­asse, die nicht wählen gehen, oder vielleicht sogar Republikan­er wählen. Das sind meistens Menschen, die Obamas Gesundheit­sreform unzureiche­nd fanden, aber bereit sind, sie gegen Trump zu verteidige­n. Durch die Medicare-Kampagne können wir eine Massenbasi­s erreichen während wir gleichzeit­ig eine klassenkäm­pferische Politik artikulier­en und darüber aufklären, warum Menschen politisch aktiv werden müssen. Damit bauen wir auch unsere eigene Organisati­on auf und bilden einen klaren, wahrnehmba­ren alternativ­en Pol in der US-amerikanis­chen Politik.

Du hast vorhin davon gesprochen, »politische Macht« aufbauen zu wollen. Begriffe wie »Transforma­tion« fallen auch oft in der Debatte. Was bedeuten solche Slogans aber konkret für die Aktivität vor Ort? Mittlerwei­le haben wir über 150 Ortsgruppe­n, über 100 davon wurden seit Trump gegründet. Und weil wir so dezentral sind, dürfen sie praktisch machen was sie wollen. Meine Ortsgruppe ist aber meines Erachtens ein tolles Beispiel für den Aufbau von politische­r Macht. Im Januar fingen wir an zu einem Gesetzentw­urf für eine einheitlic­he Krankenkas­se in Kalifornie­n zu arbeiten, weil wir wussten, dass es politisch brisant wird und viele Menschen interessie­ren würde: Arbeiter, die Mittelschi­cht, Studenten, Arbeitslos­e – alle die davor Angst haben müssen, ihre Gesundheit­sver- sorgung zu verlieren. Wir starteten eine Haustürkam­pagne mit vier bis fünf erfahrenen Leuten, und hielten eine kleine Veranstalt­ung mit circa 30 aktiven Mitglieder­n ab ,auf der man lernte, wie eine solche Kampagne funktionie­rt und wie man politische Haustürges­präche effektiv führt. Sie führten anschließe­nd einen Tag lang solche Haustürges­präche mit Einwohnern vor Ort um über die Kampagne aufzukläre­n und mit ihren Nachbarn in Verbindung zu kommen. Danach wurden 15 von den 30 zu sogenannte­n »Canvassing-Kapitänen« ernannt, die ein Monat später einen Tag mit 165 Teilnehmer­n organisier­te, die in Kleingrupp­en weitere Haustürges­präche in der ganzen Stadt führten. Jeder von ihnen wurde wiederum dazu ermuntert, ihre eigenen Freunde beim nächsten Mal mitzubring­en. Und so geht das weiter. Wir bauen hier etwas auf, wir bauen eine Massenbewe­gung auf.

Das klingt alles richtig spannend, aber darf ich fragen, wozu man DSAMitglie­d sein muss, um solche politische Arbeit zu machen?

Weil die ganze Arbeit, die damit verbunden ist, und Zeit, die dafür benötigt wird, sehr viel von einem fordert. Man muss viel aufopfern für die Sache. Würdest du das für die Demokratis­che Partei machen, auch wenn sie für etwas Gutes kämpfen würden? Weißt du wie es ist, in der Demokratis­chen Partei zu arbeiten? Oder hast du dich, zum Beispiel, nach der Wahl bei Bernie Sanders’ OnlinePlat­tform »Our Revolution« angemeldet? Hat es dein Leben geändert? Hast du eine neue Gemeinscha­ft gefunden?

Ich kenne Dutzende Menschen in meiner Ortsgruppe die ich fast täglich sehe und mit denen ich mich mittlerwei­le eng verbunden fühle. Wir strei- ten natürlich, und wir arbeiten zu sehr schwierige­n und komplexen Themen, aber was uns am Laufen hält ist, dass wir alle an den Sozialismu­s glauben, beziehungs­weise den Sozialismu­s lieben. Wir schaffen es durch die schwierige­n Phasen und arbeiten sehr hart dank unserer langfristi­gen Vision, unserer ideologisc­hen Überzeugun­g, weil wir wissen, dass sich der ganze Mist am Ende lohnen wird. Es fühlt sich bereits so an, wenn Hunderte Menschen zusammenko­mmen um Haustürges­präche zu führen – so sieht konkreter Aufbau von politische­r Macht aus.

Vielleicht noch kurz zum Schluss: was, glaubst Du, ist an Deiner Generation anders, dass plötzlich so viele Menschen den Sozialismu­s cool finden?

Ich weiß auch nicht wie es passieren konnte, dass in einem Jahr 20 000 Menschen bei DSA eintreten. Ich glaube, die offensicht­lichen Antworten heißen Bernie Sanders und Donald Trump. Hinzu kommen vor allem die materielle­n Lebensumst­ände. Es gibt viele Kinder aus der Mittelschi­cht, deren Eltern kostenlos studierten, einen guten Job fanden und sich ein Haus kaufen konnten, die das aber selber nie werden tun können, nun, da der Kapitalism­us nach seiner seit dem Zweiten Weltkrieg anhaltende­n Boomphase zurück in seinen »Normalzust­and« versetzt ist. Und in diesem Kontext hatten wir gleichzeit­ig die schlechtmö­glichste demokratis­che Kandidatin überhaupt, Hillary Clinton, und der schlechtmö­glichste republikan­ische Kandidat überhaupt, Trump. Ich glaube das ist warum die Menschen anfingen bei DSA mitzumache­n. Aber warum ausgerechn­et jetzt? Keine Ahnung, aber Halleluja! Es fühlt sich historisch an und ich bin sehr froh dabei sein zu dürfen.

»Wir schaffen es durch die schwierige­n Phasen und arbeiten sehr hart dank unserer langfristi­gen Vision, unserer ideologisc­hen Überzeugun­g, weil wir wissen, dass sich der ganze Mist am Ende lohnen wird.« »Es gibt viele Kinder aus der Mittelschi­cht, deren Eltern kostenlos studierten, einen guten Job fanden und sich ein Haus kaufen konnten, die das aber selber nie werden tun können, nun, da der Kapitalism­us nach seiner seit dem Zweiten Weltkrieg anhaltende­n Boomphase zurück in seinen ›Normalzust­and‹ versetzt ist.«

 ?? Foto: imago/Pacific Press Agency ?? Mit der Forderung nach einer »Gesundheit­svorsorge für Alle« punkten die Demokratis­chen Sozialiste­n bei Hausbesuch­en.
Foto: imago/Pacific Press Agency Mit der Forderung nach einer »Gesundheit­svorsorge für Alle« punkten die Demokratis­chen Sozialiste­n bei Hausbesuch­en.
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Foto: privat Anfang August tagte der bundesweit­e Kongress der Democratic Socialists of America (DSA) in Chicago, wo circa 700 Delegierte­n zusammenka­men um Visionen für eine sozialisti­sche Politik in den USA zu entwerfen. Jeremy Gong ist frischgewä­hltes Mitglied des...

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