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Dröhnendes Schweigen im Wahlkampf

Die größte Leerstelle im Wettstreit der Parteien ist die Zukunft, meint Stephan Fischer

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Vielleicht ist es einfach nur Erschöpfun­g. Das gesellscha­ftliche Grundrausc­hen ist in den letzten Jahren erst einem Gemurmel, dann einem Gebrüll gewichen. Krisen und Untergangs­zenarien allerorten, Wutwellen schwappten aus der Anonymität digitaler Echokammer­n auf die Straßen und Plätze. Aus Wut und Hass wird immer öfter Tat. Da kann ein ruhiger, vielleicht gar langweilig­er Wahlkampf plötzlich beruhigend wirken, wenn er früher als einschläfe­rnd wahrgenomm­en wäre.

Aber der Wahlkampf beruhigt nicht. Er besteht aus dröhnendem Schweigen. Schweigen zur Frage, wie sie denn aussehen soll – die Zukunft. Damit ist kein ins kleinste Detail ausgefeilt­er Plan oder die detaillier­te Vorstellun­g einer Gesellscha­ft X zum Zeitpunkt Y gemeint. Aber etwas mehr als die Verwaltung der Gegenwart im Dauerkrise­nmodus des »Auf-Sicht-Fahrens« hätte schon kommen können. Kommen müssen. Die Zukunft kommt so oder so.

So ist es ziemlich wahrschein­lich, dass durch die Digitalisi­erung die heutige Arbeitswel­t fundamenta­l erschütter­t wird. Wie viele Arbeitsplä­tze in welchem Zeitraum verschwind­en werden, lässt sich vielleicht noch nicht genau prognostiz­ieren. Arbeit, oder besser gesagt Aufgaben, wird es weiterhin geben. Aber nicht mehr gegen Bezahlung oder für ein Unternehme­n. Im Wahlkampf tauchte »Digitalisi­erung« vornehmlic­h in Verbindung mit Bandbreite­n und Leitungsau­sbau auf. Und die Zukunft der Arbeit, die Angela Merkel noch im Frühjahr zu einem Top-Thema machen wollte, verschwand im Sommer wieder in der Versenkung. Der Philosoph Richard David Precht hat das augenblick­liche Augen-Verschließ­en in einem Interview mit dem »Deutsch- landfunk« in ein treffendes Bild gekleidet: »Wir versuchen im Moment, den Arbeitsmar­kt von gestern mit einem Mindestloh­n zu stabilisie­ren. Gut verdienend­e Piloten streiken, um ihre Privilegie­n zu sichern, bevor in zehn Jahren kein einziger Pilot mehr ein Flugzeug fliegt. Was wir im Augenblick machen: wir dekorieren auf der Titanic die Liegestühl­e um.«

Schiffe können bald auch autonom fahren. Nun wäre die Titanic nicht untergegan­gen, hätte man rechtzeiti­g ihren Kurs und ihre Geschwindi­gkeit geändert. Beides glaubte man mit der Überzeugun­g der Unsinkbark­eit des Schiffes unterlasse­n zu können. Aber auch wenn sie nicht untergegan­gen wäre, würde sie heute abgesehen von nostalgisc­hen Kreuzfahrt­en nicht mehr über die Weltmeere schippern – Pferdekuts­chen gibt es schließlic­h auch noch. Zur Lösung globaler Transporta­ufgaben leisten sie heute einen ähnlichen Beitrag wie Bierbikes. Wie lange wird das beim Verbrennun­gsmotor noch anders sein?

Dass in einer alternden Gesellscha­ft die Erwartunge­n und Bedürfniss­e an die Politik andere sind als in einer vorwiegend aus jungen Menschen bestehende­n, leuchtet ein. Bewahrung und Erhalt werden wichtiger als Aufstieg und Mobilität, Gegenwart und nahe Zukunft rücken stärker in den Fokus als die ferne Zukunft. Problemati­sch wird es, wenn davon ausgehend eine imaginäre Vergangenh­eit als Ideal ins Zentrum rückt und die Zukunft im besten Falle als Leerstelle, im schlimmste­n Falle als angsterreg­endes schwarzes Loch erscheint.

Digitalisi­erung, Klimawande­l, Krisenherd­e weltweit – da kann einem mulmig werden, das kann auch Angst machen. Ein Teil der Verunsiche­rung resultiert aus einem Ohnmachtsg­efühl bei gleichzeit­igem Informatio­nsüberflus­s. Dieser flutet zu nicht unerheblic­hem Teil aus sogenannte­n sozialen Netzwerken. Technologi­eunternehm­en sorgen derzeit für ungeheure Fortschrit­tssprünge. Die Politik steht meist staunend – und ebenfalls ziemlich ohnmächtig daneben. Die Frage aber, ob wir uns in Zukunft noch in einem demokratie­ähnlichen Gebilde bewegen oder in einer technokrat­ischen Diktatur, erfordert jetzt Antworten. Da helfen keine Mauern oder Zäune, da müssen die Möglichkei­ten der Zukunft, positive wie negative, in eine Gegenwart adaptiert werden. Da muss über Grundeinko­mmen debattiert werden oder die Abschöpfun­g von Gewinnen, denen immer weniger menschlich­e Arbeit zugrunde liegt. Und über die Demokratie selbst.

Die Wahlkämpfe­r ähnelten in weiten Teilen Hochseilar­tisten: Bloß nicht zu viel bewegen, sonst droht der Absturz. Aber das Land ist auch davon unabhängig immer mehr aus dem Gleichgewi­cht geraten. Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt wie es ist. Darüber wurde viel zu laut geschwiege­n.

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Foto: nd/Anja Märtin Stephan Fischer ist Redakteur bei »neues deutschlan­d«.

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