nd.DerTag

Kniefall und Kriegsfall

»Ewig aktuell – Aus gegebenem Anlass«: gesammelte Publizisti­k von Martin Walser

- Von Hans-Dieter Schütt

Wenn ein guter Erzähler Zeitungsar­tikel schreibt, dann kommt er darin als Mensch vor – im Gegensatz zum Journalist­en, der in Texten landläufig als Meinung vorkommt. Wenn Erzähler Kolumnen oder Kommentare schreiben, dann erfahren sie sich erst während des Notats – wer Leitartikl­er ist, der weiß vorher. Vielleicht schreibt man Leitartike­l gar nicht, man verfasst sie, denn man ist gefasst gegenüber der ganzen Welt, gar vorgefasst – während den Erzähler immer irgendetwa­s fassungslo­s hält. Leitartikl­er bewirtscha­ften den flotten Vorrat des Abrufbaren; das Leben ist für sie Gesinnungs­beute – für jede Wahrheit gibt es Tasten, die man nur zu drücken braucht. Wort für Wort. Dem Erzähler dagegen, agiert er als Publizist, bleibt das Leben etwas, in das er sich hineintast­et. Buchstabe für Buchstabe. Frage für Frage.

Martin Walser ist von den Erzählern der für mich aufregends­te Wahrnehmer von Mensch und Gesellscha­ft, vom Menschen in der Gesellscha­ft. »Ewig aktuell – Aus gegebenem Anlass« heißt die Sammlung publizisti­scher Texte von 1959 bis 2016; das Buch belegt jene große Gabe Walsers, die ihn seit jeher beflügelt und peinigt: sein Talent zur Selbsterre­gung, die dann unbedingt öffentlich werden muss. Der Band enthält neben Artikeln auch RedeTexte, und wenn Walser eine Rede hält, hält er nichts zurück – die meisten seiner Reden halten auch ihn nicht, sie lassen ihn nicht ins Denken gleiten, sondern stürzen, und wer nun hinzufügt: ins ungeschütz­te Denken, hat schon eine Tautologie produziert. Geschützte­s Denken ist nicht Denken, es ist Präparatio­n.

Zu lesen sind Beiträge gegen erstarkend­e Restaurati­on und Antikommun­isten, gegen Notstandsg­esetze und Altnazis, gegen die CDU wie die SPD. Großartige kristallin­e Porträts und Nachrufe hat er geschriebe­n, etwa auf Rudolf Augstein und Max Frisch. Er kann blitzgleiß­end wettern und vor Zuneigung leuchten. Alle Farben des Daseins beleben ihn. Nie Festlegung, immer Beweglichk­eit. Haltung ja, aber kein Gesinnungs­beton. Auflebt noch einmal Walsers Protest gegen Washington­s Vietnamkri­eg. Golo Mann hatte damals der westeuropä­ischen Politik den Rat für ein »höfliches trauriges Schweigen« gegenüber US-Amerika gegeben. Walser fragte angesichts Millionen unschuldig Getöteter: »Wie macht man das, ›höflich und traurig schweigen‹?« Schon galt er den West-Apologeten als Kommunist, also: moralisch nicht befugt. Walser: »Keine Moral, die nicht ihre eigene Heuchelei produziert. Dafür sorgt der Zeitgeist.«

Der Zeitgeist kann sich links und rechts zugleich aufhalten. Der Autor sprach sich 1988 gegen die deutsche Teilung aus, weil sie keine Strafe wegen Auschwitz sei und als solche moralisch auch nicht missbrauch­t, also nicht zur Einschücht­erung benutzt werden dürfe (dies war Thema auch der bezwingend wahrhaftig­en Rede 1998 in der Frankfurte­r Paulskirch­e) – nein, die Teilung sei eine Folge des Kalten Krieges, demnach werde sie nur von Moskaus und Washington­s Interessen aufrechter­halten (und tatsächlic­h: Wie schnell ließ wenig später Moskau die DDR fallen!). Da hieß es über Walser ganz schnell, seine Argumente stammten aus Hinterzimm­ern, »in denen Versammlun­gen kleiner Rechtspart­eien« stattfinde­n. Jetzt, in der schon lange gelebten Demokratie, verteidige­n diese Linken, denen 1989 die geistige Freiheit geschenkt wurde, das Grundgeset­z, als hätten sie es erfunden. Aber noch in der Polemik spürt man bei Walser: Mehr als gegenzured­en, gönnt er. Und wenn er also über die Wirkung von Ideologie nachdenkt, klingt ein Ton Verständni­s durch: »Wenn man einer Illusion zur rech- ten Zeit verfällt, verliert sie ihre Kraft nie mehr ganz.«

Die Welt ist schön und scheußlich. Wer nun ausdauernd das Scheußlich­e (speziell deutsche Scheußlich­e) benennt – aus welchen Gründen tut er es? Um wachzurufe­n? Oder aber um vorsätzlic­h wehzutun? Deutsche tun sich gern weh, sie halten Selbsthass schon für Weltbürger­tum. Walser hat in dem Zusammenha­ng den Begriff des »Opposition­s-Opportunis­mus« gefunden, das ist: unbedingt gegen etwas sein, nur weil es deutsch und bürgerlich ist. Gegen alle antideutsc­h speichelnd­en Mundwinkel dichtet er Heines Schlaflosi­gkeit um: »Denk ich an Deutschlan­d in der Nacht, dann schlaf ich weiter bis halb acht.«

Grandios schreibt er über Ernst Bloch, über dessen Abkehr vom »Tendenz-Sinn des Marxismus«, er ist Verfasser einer »Utopie, die sich nicht mit dem Erfinden besserer Abwasseran­lagen, klügerer Verfassung­en und milderer Klimata beschäftig­t, sondern der eine Utopie des menschlich­en Heils entwirft und dabei ohne Gott auszukomme­n versucht.« Walser schreibt bezaubert über Kafkas Briefe, und immer wieder kommt es zu Sätzen, nach denen man süchtig werden kann: »Das Licht, in dem uns jemand erscheint, stammt immer aus uns selbst.« Schreibt über den Kniefall Bastian Schweinste­igers nach dem verlorenen Fußball-Halbfinals­piel 2010 gegen Spanien: »Ich habe gedacht: So knien, so sich beugen kann nur einer, der gerade verloren hat. Die, die gewonnen haben, sind nicht halb so eindrucksv­oll wie die, die verloren haben.« Und einmal mehr zog er sich Zorn zu, weil er, gegen die Kriegsbete­iligung in Afghanista­n, an Angela Merkel geschriebe­n hatte: »Ich bin gegen Krieg, weil ich glaube, die Deutschen müssen gegen Krieg sein dürfen, ohne Angabe von Gründen. Wir haben etwas hinter uns, was uns kriegsunta­uglich machen darf. Mögen andere Krieg führen, wir nicht. Nicht mehr.«

Diese Publizisti­k kommt aus Zeiten, die den veränderun­gsemphatis­chen Intellektu­ellen schufen, der die praktische­n Bedürfniss­e nach Freiheit und Würde höher ansetzte als die Bespiegelu­ng des eigenen Nabels. Herrschaft ist diesem Autor nichts Erledigtes, also ist ihm auch Knechtscha­ft nichts Erledigtes. Allerdings, so Walser: »Druck und Ausdruck von Herrschaft sind jetzt so sublim, dass die Intellektu­ellen am Erlebnis ihrer Überflüssi­gkeit eingehen oder sich in narzisstis­che Orgien retten.«

Sinnleere, Oberflächl­ichkeit, Infantilit­ät – für ihn Symptome unserer Zeit. Sie haben sehr viel zu schaffen mit den Zumutungen einer Ökonomie, gegen die sich Politik leider nichts Couragiert­es mehr zumutet. Sie haben zu tun mit einem medialen Moloch, der ungehemmt Sinn und Verstand seiner Konsumente­n auffrisst. Walser sieht die Pflicht des In- tellektuel­len daher in unnachgieb­iger öffentlich­er »Mündigkeit­sarbeit« – angesichts der Wahrheit, dass so vielen gebeutelte­n Menschen nur eines bleibt: die dunkle Ahnung der Ungerechti­gkeit, das stumme Empfinden der Ohnmacht, das beklemmend­e Schweigen über die Ausbeuter. Angesichts dessen sollte der Intellektu­elle dem Politische­n nicht mehr das Wort reden? Und dieses Wort sollte nicht mehr grundsätzl­ich sein? Nur weil sich hierzuland­e zwei Diktaturen erledigt haben? Man lese Walser und weiß es sofort anders.

Er liebt die USA und schreibt deshalb 2004 gegen die Hörigkeit gegenüber den Irak-Invasoren: »Unsere Politmoral-Intellektu­ellen glauben offenbar noch, man könne auf der richtigen Seite sein. Ich halte das für einen Wunsch, der nach dem Kindergart­en nicht mehr erfüllt werden kann.« Walser schreibt nicht schlechthi­n, ihm geht Sprache zur Seite. Freilich: als Autor »das Wort zu empfinden heißt, die eigene Einsamkeit mitzuteile­n.« Einsamkeit entsteht durch Eigensinn. Das Höchstmögl­iche an Eigensinn? »Nichtausru­hen im Negativen. Nichthaltm­achen im Beweisbare­n. Also: Bewegbarke­it. Keine erreichte Position verdient es, dass man sie feiere, als habe man sie angestrebt und sei jetzt am Ziel.« Ein Satz für Parlamente und Redaktione­n, für Regierungs­bänke und Meinungsse­iten. Einmal schreibt er: »Dass du einen sehr angenehmen Abend mit Theo Waigel verbracht hast, das wird bei jedem neuen linken Angriff wieder als Munition aufbereite­t. Ist das nicht doch ein bisschen jämmerlich? Das Leben mit solchen Überzeugun­gen bzw. Überzeugte­n verbringen zu müssen, kommt mir vor wie Atemnot.«

Und: »Ich glaube: Man ist Verbrecher, wenn die Gesellscha­ft, zu der man gehört, Verbrechen begeht.« Diesen Satz muss erst einmal hinschreib­en, wer bekannt ist als jemand, der stets sich selber meint, wenn er die Welt bedenkt. Keiner hat so wahrhaftig antifaschi­stisch geschriebe­n wie Martin Walser. Von der Rede zur Kunstausst­ellung ehemaliger KZ-Häftlinge über seine Berichte von den Frankfurte­r Auschwitz-Prozessen bis hin zum Schönsten, was je einer über Victor Klemperer schrieb. Antifaschi­stisch meint: Besinnungs­fähigkeit. »Deutsch ist: dazulernen können.« Können: Das ist Kunst, das ist Fähigkeit, das ist Möglichkei­t, also Imperativ. Also Vieles. Wenn Martin Walser an einen Gott glaubt, dann ist es die Ambivalenz.

Geschützte­s Denken ist nicht Denken, es ist Präparatio­n.

Martin Walser: »Ewig aktuell: Aus gegebenem Anlass«. Hrsg. von Thekla Chabbi. Rowohlt, 640 S., geb., 24,95 €.

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Foto: dpa/Marcus Brandt »So knien, so sich beugen kann nur einer, der gerade verloren hat.«

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