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Der große Böse oder frei von Schuld

Fünf Monate vor den Olympische­n Winterspie­len hat das IOC noch immer keine Konsequenz­en aus dem Dopingskan­dal von Sotschi gezogen

- Von Oliver Kern

Mehr als 1000 russische Athleten wurden im McLaren-Bericht des Dopings bezichtigt, nun gehen viele offenbar straffrei aus. Trotzdem wird der Olympiaaus­schluss Russlands gefordert. Zwei Tage, zwei Meldungen. Und beide wollen so gar nicht zueinander passen. Zunächst hatte die »New York Times« (NYT) am Dienstag von einem internen Dokument der WeltAntido­ping-Agentur berichtet, in dem die WADA schreibt, dass sie 95 der ersten 96 untersucht­en Fälle im russischen Dopingskan­dal nicht weiter verfolge. Einen Tag später fordert ein Zusammensc­hluss von 69 hauptsächl­ich westlichen Nationalen Antidoping-Agenturen (NADOs) – darunter die deutsche NADA –, dass Russlands Olympische­s Komitee (ROC) von den Olympische­n Winterspie­len 2018 in Pyeongchan­g ausgeschlo­ssen werden soll. Was stimmt nun? Ist Russland der große Böse oder von allen Anschuldig­ungen befreit?

Sehr wahrschein­lich stimmt keins von beiden. Der Report von Richard McLaren hatte 2016 mehr als 1000 Fälle aufgeliste­t, in denen russische Sportler vermutlich betrogen hatten. Der von der WADA eingesetzt­e Sonderermi­ttler hatte sich allerdings darauf konzentrie­rt, das System dahinter aufzudecke­n, und nicht die Schuld einzelner Athleten nachzuweis­en. Dies sei Aufgabe der Sportverbä­nde, und die tun sich schwer damit. McLaren listete sehr viele Zeugenauss­agen, E-Mails und Tabellen, aber nur wenige positive Proben auf. Ohne konkrete Beweise haben viele Verbände aber Angst, Klagen gegen Sperren vor Gericht zu verlieren.

Die nationalen Agenturen schieben nach ihrem Treffen dieser Tage in Denver die Schuld dafür nach Russland. Schließlic­h hätten die dortige Regierung, das ROC und Dopingkont­rolllabore den Zugang zu vermutlich belastende­n Proben verhindert oder sie sogar tausendfac­h zerstört, um einen Nachweis von Manipulati­onen unmöglich zu machen. Russland sei auch der Bitte nicht nachgekomm­en, E-Mails, Server und andere Datenbestä­nde auszuhändi­gen. Die WADA hat keine Macht, sie einzuforde­rn, und die Russen haben offenbar keine Lust, von sich aus bei der Aufklärung zu helfen.

So lange Russland die Anschuldig­ungen von McLaren nicht akzeptiere und auch keine Gegenbewei­se liefere, sollte das ROC nicht zu den Winterspie­len eingeladen werden, fordern die NADOs nicht zum ersten Mal. Schließlic­h kulminiert­e der offengeleg­te Betrug mit vertauscht­en Proben bei den Spielen vor vier Jahren in Sotschi. »Funktionär­en, die Regeln gebrochen haben, sollten keine Akkre- ditierunge­n erteilt werden, wenn Sportler gesperrt werden«, heißt es in einem Forderungs­katalog an das Internatio­nale Olympische Komitee. Derzeit sende das IOC eine »zynische Botschaft, dass Personen aus favorisier­ten, Insider-Nationen nie zur Rechenscha­ft gezogen werden«.

Noch stehen mehr als 1000 Fälle aus. Viel hängt nun davon ab, wie hartnäckig die Verbände nach Beweisen suchen. Die NADOs kritisiere­n, dass Zeugen bisher kaum befragt werden. Die Verbände verwiesen darauf, dass der Hauptbelas­tungszeuge, der ehemalige Direktor des Moskauer Labors Grigori Rodschenko­w, nicht zur Verfügung stehe. Dem widersprac­h dessen Anwalt Jim Walden in der NYT: »Dr. Rodschenko­w ist gewillt zu kooperiere­n.« Bislang hätte aber nur ein Ermittler des IOC darum gebeten, von einzelnen Sportfachv­erbänden habe kein einziger angefragt. Rodschen- kow lebt aus Angst vor Vergeltung in seiner Heimat an einem geheimen Ort in den USA. Für Interviews stehe er aber bereit, so sein Anwalt.

Die Forderung nach einem Ausschluss des ROC müsse keine unschuldig­en Athleten treffen, stellte die NADA mit ihren Verbündete­n am Donnerstag klar. So habe auch der Internatio­nale Leichtathl­etikverban­d seinen russischen Ableger gesperrt, lasse aber Sportler starten, die nachweisen können, ausreichen­d von internatio­nalen Kontrolleu­ren getestet worden zu sein. Eine solche Regelung könne auch für alle Winterspor­tler eingeführt werden.

Das IOC hält sich wie vor den Sommerspie­len 2016 in Rio zurück. Damals schob es die Verantwort­ung an die Einzelspor­tverbände. Die Dachorgani­sation der Paralympic­s hatte hingegen alle Russen ausgeschlo­ssen. Die Sperre wurde übrigens bis heute nicht aufgehoben.

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