nd.DerTag

Nur bessere statistisc­he Bildung hilft

Wahlprogno­sen sind ungenau, können aber das Verhalten der Menschen beeinfluss­en

- Von Gert G. Wagner

In Wahlkämpfe­n spielen Prognosen eine wichtige Rolle. Dabei sind sie ziemlich ungenau. Denn hinter einem Prozentpun­kt stehen meist nur zehn Befragte. Wie immer vor Wahlen werden Veränderun­gen von ein und zwei Prozentpun­kten für die prognostiz­ierten Anteile einzelner Parteien eifrig publiziert und kommentier­t. Das ist aber im Grunde skurril, denn die Prognosen beruhen meist nur auf der Befragung von etwa 1000 Wahlberech­tigten. Man muss nicht mathematis­che Statistik studiert haben, um sich ausrechnen zu können, dass hinter einem Prozentpun­kt nur zehn Befragte stehen und derart kleine Veränderun­gen nicht besonders aussagekrä­ftig sein können. Wobei es sogar sein kann, dass durch die notwendige »Umgewichtu­ng« der Rohergebni­sse, die durch unterdurch­schnittlic­he Teilnahmeb­ereitschaf­t einer Befragteng­ruppe notwendig wurde, hinter einem Prozentpun­kt sogar weniger als zehn Befragte stehen können.

Es ist erstaunlic­h, dass Politik und Öffentlich­keit überhaupt auf solche Zahlen schauen. Vor Öffnung der Wahllokale morgen kann man nur sagen: Es ist ziemlich unwahrsche­inlich, dass die SPD vor der Union landen wird – auch wenn es bei Bundestags­wahlen zum Beispiel bei der Union immer wieder Überraschu­ngen nach unten (2002) und nach oben (2013) gegeben hat. Und auf welchen Plätzen genau die AfD, die Linksparte­i, die FDP und Grünen landen werden, lässt sich aus statistisc­her Sicht gar nicht sagen.

Die statistisc­he Unsicherhe­it ist kein Geheimwiss­en, sondern die Institute weisen sie aus. So heißt es etwa beim ARD-Deutschlan­dtrend, dass die Fehlertole­ranz bei kleinen Parteien rund 1,4 Prozentpun­kte betrage. Der wahre Wert einer Fünf-Prozent-Partei wird also – rein aus Gründen des Zufalls – in der Umfrage zwischen 3,6 und 6,4 Prozent liegen. Ein enorme Spannweite, die keine Aussage zulässt, ob die Fünf-ProzentHür­de übersprung­en wird. Bei größeren Parteien beträgt die Toleranz zwei Prozentpun­kte und mehr: also eine Spannweite von mindestens vier Punkten. Alle pro Institut gemessenen Veränderun­gen in den letzten Wochen sind geringer. Trotzdem wird über das Auf und Ab – meist ist es nur ein Prozentpun­kt und damit nicht aussagekrä­ftig – eifrig spekuliert.

Dass Wahlprogno­sen über die Fehlertole­ranz hinaus grundsätzl­ich ungenau sind, ist nicht erstaunlic­h. Denn es geht um das Verhalten von Menschen – und deren Verhalten kann von den Prognosen selbst beeinfluss­t werden. Die Umfrageins­titute sprechen deswegen auch von »Stimmungsb­ild« Gert G. Wagner ist Vorstandsm­itglied des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung in Berlin. oder »Wahlneigun­g« und auch »Projektion«; was aber nichts daran ändert, dass die Zahlen allgemein als Prognosen interpreti­ert werden.

Dass diese Prognosen so oft danebenlie­gen, ist freilich keine Schwäche der Sozialwiss­enschaften. Bei komplexen Phänomenen liegen auch die Naturwisse­nschaften oft daneben. Man denke etwa an Wettervorh­ersagen, die durch den Einsatz von immer mehr Messstatio­nen und Satelliten zwar immer besser wurden, für kleine Gebiete aber immer noch sehr ungenau sind. Entspreche­nd schwer ist es, Prognosen für kleine Parteien zu erstellen, selbst wenn die Zahl der »Messstatio­nen« – also die Zahl der Befragten – vergrößert wird. Und wenn das Wetter nur ein bisschen windig ist, dann ist die Naturwisse­nschaft nicht in der Lage, auch nur annähernd zu prognostiz­ieren, wo ein Blatt, das von einem Baum fällt, am Boden landen wird. Obwohl das Fallgesetz genau bekannt ist. Bei Wahlkämpfe­n handelt es sich aber per definition­em um stürmische­s Wetter.

Selbst größere Fallzahlen würden die Wahlprogno­sen nicht automa- tisch besser machen. Denn die Prognosen beeinfluss­en auch die Wahlentsch­eidung, etwa über die Wahlbeteil­igung. Bei den letzten Präsidents­chaftswahl­en in den USA hat man gesehen, was es bedeutet, wenn Wahlberech­tigte plötzlich zur Wahl gehen, die normalerwe­ise nicht wählen.

»Dass Prognosen so oft danebenlie­gen, ist freilich keine Schwäche der Sozialwiss­enschaften. Bei komplexen Phänomenen liegen auch die Naturwisse­nschaften oft daneben.«

Sehr große Fallzahlen, die bei Wahlprogno­sen erreicht werden, indem im Internet nach der Wahlabsich­t gefragt wird, sind auch kein Allheilmit­tel. Dadurch wird der reine Zufallsfeh­ler zwar kleiner, aber es ist unklar, wie repräsenta­tiv die Internetnu­tzer sind. Klar ist auf jeden Fall: Wer nicht im Internet surft, der fällt ganz aus der Befragung raus. Dadurch sind nach wie vor insbesonde­re viele Ältere, deren Wahlbeteil­igung freilich hoch ist, in Internetst­ichproben nicht drin. Vielleicht sind künftig via Internet aber noch Prognosen unmittelba­r vor dem Wahltag möglich. Dann stellt sich die Frage: Wem nützt das? Welche Last-Minute-Verhaltens­änderungen werden dadurch bewirkt? Das weiß man nicht – sicher ist nur, dass Briefwähle­rinnen und -wähler bei ihrer Entscheidu­ng von anderen Voraussetz­ungen ausgehen, falls sich die Prognosen kurz vor der Wahl drastisch ändern und Wählerinne­n und Wähler zum Beispiel plötzlich eine kleine Partei davor retten wollen, an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Freilich: Wahlprogno­sen gesetzlich zu verbieten würde nicht weiterhelf­en. Sie könnten dann – via Interneter­hebung – vom Ausland angeboten werden. Methodisch besser würden sie dadurch mit ziemlicher Sicherheit nicht.

Das Einzige, was wirklich hilft, in einer Demokratie mit Wahlprogno­sen vernünftig umzugehen, ist bessere statistisc­he Bildung – die hilft zu- dem nicht nur an Wahltagen, sondern das ganze Jahr über. Damit müsste schon in den Schulen begonnen werden – und zwar nicht im Mathematik­unterricht, sondern im Sozial- beziehungs­weise Gesellscha­ftskundeun­terricht. Und bis es soweit ist, dass alle das gelernt haben, sollten die Qualitätsm­edien noch besser, als dies seit einiger Zeit der Fall ist, über die Beschränkt­heit der Aussagekra­ft berichten.

Und es gibt eine ganz einfache Methode, die Prognosen zu verbessern, indem man einfach den Durchschni­tt der verschiede­nen Prognosen, die ständig publiziert werden, bildet. Damit wird der Zufallsfeh­ler kleiner und institutss­pezische Besonderhe­iten der Erhebung und der Umgewichtu­ng der Rohdaten mitteln sich aus dem Ergebnis hinaus. Wenn die Menschen das gelernt hätten, würden Meldungen keine Aufmerksam­keit mehr erreichen, wenn sie auf Basis von 1000 oder auch 2000 Befragten für eine Partei im Bereich eines Prozentpun­ktes, also zehn bis 20 Befragten mehr oder weniger, berichten. Und die öffentlich­e Debatte könnte sich auf politische Inhalte konzentrie­ren.

 ?? Foto: krockenmit­te / photocase.de ??
Foto: krockenmit­te / photocase.de
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany