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Im Zweifel gegen die Anwälte

Mitglieder der linken Juristenor­ganisation ÇHD stehen unter »Terrorverd­acht«

- Von Jan Keetman

Die linke türkische Anwaltsorg­anisation ÇHD ist ins Visier der Justiz geraten. Am Donnerstag wurden 14 Anwälte wegen »Terrorverd­acht »verhaftet. Der Deutsche Anwaltsver­ein zeigt sich entsetzt. Es begann ganz harmlos. Die Dozentin Nuriye Gülmen und der Grundschul­lehrer Semih Özakca wollten wieder zurück an ihre Arbeit. Beide waren wie über 100 000 andere Staatsdien­erinnen und Staatsdien­er per Dekret entlassen worden. Weder wurden genaue Gründe für die Entlassung genannt, noch gab es wegen des Ausnahmezu­standes die Möglichkei­t, den Rechtsweg zu beschreite­n. Also setzten sich die beiden vor das Menschenre­chtsdenkma­l in der Yüksel Caddesi. Schließlic­h entschloss­en sie sich, einen Hungerstre­ik zu beginnen. Der Hungerstre­ik wurde von der Staatsanwa­ltschaft als eine gezielte Aktion der terroristi­schen, linken Revolution­ären Volksbefre­iungsparte­i – Front (DHKP-C) gewertet. Die beiden kamen in U-Haft.

Am 14. September sollte der Prozess sein. Zwei Tage vorher wurden die Büros der beiden Anwälte von Nuriye Gülmen und Semih Özakca durchsucht. Die Polizei beschlagna­hmte dabei auch Unterlagen, die den Prozess der Hungerstre­ikenden betrafen, und nahm die Anwälte fest.

Der Gerichtste­rmin wurde überrasche­nd abgesagt, weil man »Provokatio­nen« entlang des Weges vom Gefängnisk­rankenhaus, wo Nuriye Gülmen und Semih Özakca zwangsernä­hrt werden, zum Gericht befürchtet­e. Mittlerwei­le hatten mehr Anwälte das spektakulä­re Verfahren übernommen. Darauf wurden 16 Anwälte festgenomm­en und 14 kamen nach neun Tagen im Polizeigew­ahrsam am Donnerstag selbst in Untersuchu­ngshaft.

Das Verfahren mag den Anwälten, wenn man davon absieht, dass sie diesmal selbst betroffen sind, nur zu bekannt vorkommen. Die Akten sind geheim und ebenso gibt es Zeugen, deren Identität geheim gehalten wird, wenn es sie überhaupt gibt, was ja nur die Staatsanwa­ltschaft weiß. Aus den Fragen der Staatsanwä­lte lässt sich jedoch ersehen, dass ihnen die Vertretung in bestimmten Verfahren vorgeworfe­n wird.

Ein Anwalt wurde zum Beispiel gefragt, warum er die Eltern von Berkin Elvan vertreten habe. Berkin Elvan war ein 14-jähriger Junge. In der Zeit der Gezi-Proteste 2013 sollte er für die Familie morgens Brot holen. Die Wohnung der Elvans lag etwa zwei Kilometer vom umkämpften Gezi-Park entfernt, aber die Scharmütze­l hatten sich bis in die Nähe ausgedehnt. Auf der Straße schoss ein Polizist eine Gasgranate gezielt auf den Jungen, den er am Kopf trat. Nach vielen Monaten im Koma starb Berkin Elvan. Nun ist selbst die Vertretung seiner Eltern ein mögliches Verbrechen.

Nicht nur türkische Anwälte sind entsetzt über das Vorgehen. Der Präsident des Deutschen Anwaltsver­eins, Ulrich Schellenbe­rg nannte es eine »perfide Logik«, wenn Anwälte wegen der Mandanten beschuldig­t würden, die sie verteidige­n. Es gäbe bereits Fälle, dass ein Beschuldig­ter keinen Anwalt mehr finden würde, weil die Anwälte schlicht Angst hätten.

Verwunderl­ich ist ein solches Vorgehen nicht in einem Land, in dem der Präsident Recep Tayyip Erdogan in einem Jahr ein Viertel der Richter – über 3800 – ausgetausc­ht hat und jeden für einen Terroriste­n hält, der gegen seine Politik ist.

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