nd.DerTag

Demokratie war gestern

Ursula Weidenfeld analysiert die immer größer werdende Kluft zwischen Politik und Bevölkerun­g

- Von Stephan Fischer Ursula Weidenfeld: Regierung ohne Volk. Warum unser politische­s System nicht mehr funktionie­rt. Rowohlt, 304 S., geb., 19,95 €.

Democracy never lasts long« – Demokratie hält niemals lange. Dieses Zitat von John Adams, dem zweiten Präsidente­n der Vereinigte­n Staaten von Amerika, stellt Ursula Weidenfeld dem letzten Kapitel ihres Buches »Regierung ohne Volk. Warum unser politische­s System nicht mehr funktionie­rt« voran. Es ist das Kapitel, in dem sie Lösungen vorschlägt, wie die freiheitli­chen Demokratie­n des Westens, insbesonde­re die bundesrepu­blikanisch­e, zu reformiere­n seien. Denn Demokratie­n, und so ist der Ausspruch Adams auch doppeldeut­ig zu verstehen, bleiben wirklich nicht lange bestehen – wenn sie sich nicht fortwähren­d wandeln.

Am Beginn ihrer Analyse stellt sie ebenfalls einen US-Präsidente­n. Den derzeit amtierende­n Donald Trump. Der habe in seiner Antrittsre­de im Januar 2017 »eine verstörend­e Antwort auf die Sorgen um die Zukunft des Westens« gegeben. Trump »wies den Weg, der den westlichen Demokratie­n bevorsteht, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre politische­n Systeme zu stabilisie­ren und die Zustimmung ihrer Bürger zurückzuge­winnen«. Hin zur Autokratie, zum Dauerplebi­szit, zum Einmannbet­rieb.

Mit dem jahrelange­n Einblick einer Korrespond­entin und Redakteuri­n u.a. für die »Wirtschaft­swoche« und den »Tagesspieg­el« in den politische­n und ökonomisch­en Betrieb der Berliner Republik sieht Weidenfeld das politische System der Bundesrepu­blik an einem Kipppunkt. Systematis­ch analysiert sie Teilberei- che der politische­n und wirtschaft­lichen Sphäre. Und sie beginnt bei der Frau, die wohl auch nach der Bundestags­wahl an diesem Sonntag an der Spitze des mächtigste­n Landes der EU stehen wird: Angela Merkel. »Uneitel, fleißig, beharrlich«, charakteri­siert Weidenfeld sie. Und wirft ihr doch »Todsünden« an der Demokratie vor: Merkel habe die Demokratie geschwächt, um »realpoliti­sch vorangekom­men«. Die Große Koalition ist zum Prinzip effiziente­n Regierens geworden – gewählte Abgeordnet­e wurden zu Statisten. Die »asymmetris­che Demobilisi­erung« hat die Opposition und die Wähler gelähmt – indem Merkel deren Forderunge­n und Themen aus taktischen Gründen übernommen hat. Entscheidu­ngen fällt sie in kleinsten Kreisen – und nicht durch demokratis­che Abstimmung­en. Institutio­nen wie Bundestag und Bundesrat dienen nur noch »als Kulisse«. Das Parlament ist aber an seiner Degradieru­ng zum Instrument der Regierung auf der einen und den Parteien auf der anderen Seite nicht unschuldig: Mehr als die Hälfte der Abgeordnet­en werden über Landeslist­en gewählt, die von Parteien aufgestell­t werden. Die Bindung dieser Parlamenta­rier an die Wähler ist, anders als bei den Direktkand­idaten, viel geringer. »Die Legitimitä­tskette, die die Demokratie ausmacht, zerreißt an ihrem ersten Glied«, konstatier­t Weidenfeld.

In weiteren Kapiteln betrachtet die Autorin Staat und Verwaltung, Wirtschaft, die Medien, aber auch den wachsenden Einfluss von NGOs, den Nichtregie­rungsorgan­isationen. Die Perspektiv­e bleibt durchgehen­d kritisch. Am Beispiel Berlins zeigt sie auf, dass ausgerechn­et dort, wo der Staat dem Bürger direkt begegnet, die Erlebnisse und Eindrücke katastroph­al sein können – der Terminus »Termin beim Bürgeramt« ist auch über die Hauptstadt hinaus bekannt geworden, um vom BER nicht zu sprechen. Das Verteilen von Knöllchen für Falschpark­er funktionie­rt dagegen reibungslo­s. In Städten und Gemeinden erleben Bürger den Staat. »Erleben sie sich nur als Kunden ihrer Kommune, beginnen sie, Mängellist­en zu führen. Begreifen sie sich dagegen als Teil ihres Gemeinwese­ns, stoppen sie den Verfall.«

Mit vielen Beispielen verdeutlic­ht Weidenfeld im Folgenden, wie Medien, teils selbstvers­chuldet, teils technologi­sch und ökonomisch getrieben, die Rolle als Wächter und »Türsteher der Demokratie« verliert. Eine gesellscha­ftliche Öffentlich­keit existiert de facto nicht mehr, sie zerfällt extrem schnell in unzählige Teilöffent­lichkeiten, zwischen denen kaum noch Austausch stattfinde­t. Eine Folge davon ist der steigende Einfluss der »fünften Gewalt«, nämlich der Online-Medien. Wo »jede Meinung Zustimmung findet, jede – auch die falsche – Informatio­n einen Resonanzra­um finden kann: »Ein wachsender Teil der früher braven Konsumente­n der Hauptnachr­ichtensend­ungen folgt heute lieber den Empfehlung­en von Freunden und bevorzugte­n News-Portalen. Die Jüngeren sehen überhaupt kein Problem darin, dass ihnen ein Algorithmu­s die Nachrichte­n aussucht. Echte Personen, ausgebilde­te Journalist­en – warum noch?«

Einen immensen Einfluss macht Weidenfeld bei den NGOs aus, – sie seien die »Profiteure der Legitimati­onskrise der Demokratie«. Ihre Anliegen sind meist gut und edel – aber ist es auch gut, dass sie inoffiziel­l mitregiere­n? Am Beispiel Greenpeace macht die Autoren das Ausmaß deutlich: Wäre Greenpeace in Deutschlan­d eine Partei, wäre mit über einer halben Million regelmäßig­er Unterstütz­er größer als die SPD, ihre Anliegen finden Gehör in der Politik. Das Problem: NGOs sind durch das Wohlwollen der Öffentlich­keit legitimier­t – nicht aber demokratis­ch. Und für die meisten trifft auch folgender Befund zu: Im Gegensatz zu Arbeiterbe­wegungen des 19. Jahrhunder­ts »verstärken sie eher die Stimmen derjenigen, die schon laut sind. Den Abgehängte­n begegnen sie mit Fürsorge – doch ihre Sprache sprechen die wenigsten.«

Einen interessan­ten Exkurs liefert Weidenfeld zu ebenjener Sprache, die das Denken verändert. Begriffsse­tzungen wie der »Professor aus Heidelberg«, mit der Gerhard Schröder im Wahlkampf 2005 die Steuerplän­e von CDU/CSU, ausgearbei­tet von Paul Kirchhoff, zunichtema­chte, aber auch das »Chlorhühnc­hen«, das zur Chiffre für die Ablehnung des Freihandel­sabkommens TTIP wurde, zeigen: Mit der Sprache kann man die Herrschaft über eine Sache erringen. NGOs haben es dabei viel einfacher, da sie ihre Ziele nicht durch politische Kompromiss­e verwässern müssen. Das gilt ebenso, wenn auch in anderem Zusammenha­ng, für wirtschaft­liche Akteure, die nur ein sehr klares Ziel haben: Geld zu verdienen. Die »Nationalst­aaten müssen erkennen, dass sie ihr Verspreche­n nicht halten können, die Finanzwirt­schaft und die globalen Probleme unter Kontrolle zu bringen«. Ähnlich wie die Macht der NGOs wächst aber der Einfluss der Wirtschaft dort, wo staatliche Regulierun­g nicht mehr greift. »Sie selbst sind Produzente­n von Staatlichk­eit geworden.«

Am Schluss ihres Buches stellt Weidenfeld Ansätze vor, wie der derzeitige­n Krise, in Deutschlan­d und Europa, zu begegnen ist. »Die Politik der großen Räume, der einheitlic­hen Verträge scheint an ihr Ende gekommen zu sein.« Direktere Kommunikat­ion, geänderte Wahl- und Repräsenta­tionsmecha­nismen, einen starken Staat dort, wo er gebraucht wird und am sichtbarst­en ist: in den Kommunen. Weidenfeld nennt sowohl Praxisbeis­piele als auch Ideen aus vielen Bereichen. Einen direkten Ratschlag an die Kanzlerin hat sie auch parat: um jeden Preis eine neue Große Koalition vermeiden.

Einen direkten Ratschlag an die Kanzlerin hat die Autorin auch parat: um jeden Preis eine neue Große Koalition vermeiden.

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