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Clowns im ersten Lehrjahr

»Caligula« von Albert Camus eröffnete die Intendanz Oliver Reeses am Berliner Ensemble

- Von Hans-Dieter Schütt

Das rote Herz wird groß und größer – und platzt. Der Tod eines Menschen: Caligula tritt dem Opfer auf den Bauch, wie man eine Luftpumpe betätigt. Des Sterbenden Herz ist ein Luftballon zwischen dessen Lippen. Aufblasen bis zum Knall. Ein makaber treffliche­s, ein starkes Bild. So erzählend wie – enthüllend. Theater der Jüngeren. Plopp! Peng! Noch der Tod ist ein Scherz. In einer Welt, wo alles nur gebrochen auftritt, wären auch Erhabenhei­t und Ergriffenh­eit zum Kotzen. Alles verworfen, nur das Verworfene nicht. Leid – verkäuflic­h nur light? Hoffnung, eine Comicfigur. Charakter, ein Gummiband.

Volker Braun nennt die Utopie »ein Gespenst aus der Zukunft arbeitslos«. Arbeit hat der Nihilismus, er ist Naturparkw­ärter geworden: Möge über alle Werte schön das Gras wachsen. Albert Camus hat 1925/44 mit »Caligula« eine »Tragödie der Erkenntnis« geschriebe­n: Wo jenes Wissen ins Hirn schlägt, dass Existenz keinen Sinn und nur das Nichts Bestand hat, dort muss vor dem Menschen gewarnt werden, der diese Sinnlosigk­eit und dieses Nichts nicht mehr einfach nur erduldet, sondern es, gewisserma­ßen der Wahrheit verpflicht­et – herbeiführ­t.

Caligula, der Wahnmörder, der die Dinge nicht nur zu Ende denkt, sondern zu Ende tötet. Mit Camus’ Bühnenerst­ling eröffnete Regisseur Antú Romero Nunes die erste Spielzeit von Intendant Oliver Reese, dem Peymann-Nachfolger am Berliner Ensemble. Der 33-jährige Nunes ist entschloss­en fleißig, um ja kein Abbildner zu sein. Er hält Abstand. Er spielt durch, er ist schnell durch. Rom, das ist ein siebenköpf­iges Ensemble, reizbewegl­ich, so faustdick wie dünnhäutig, freilich: mehr faustdick. Als hätte die Regie eine Bitte erhört: bloß keine Politparod­ie, aber auch keine falschen Aufwallung­en! Runterkühl­en das alles; das Labor besetzen, nicht den Olymp.

Aber das hat seinen Preis: im Labor eher Mäuse als Menschen. Spielmäuse, von Goldoni und RüpelShake­speare nach Berlin geliefert, doch vorher durch die Gosse gezogen. Die Frisuren ein verfilztes Strähnenfe­st. Pluderhose und breiter Schlips überm Schmerbauc­h. Ganzkörper­harlekinad­en. Rot verschmier­te Münder. Clowns im ersten Lehrjahr: Wie spielt man, dass eine Hand am Bühnenport­al festklebt? Böse Ahnungen: Wird Philosoph Camus zum Schrumpfko­pf?

Nein, so schlimm wird’s nicht. Denn der dunkle Ton – weniger der Zwischento­n – findet auf die Bühne, teilt sich mit der Grobheit und Laxheit des Grand Guignol den Abend. Der sich freilich aus der Kneipp-Kur meldet: immer auf der Stelle treten! Die Inszenieru­ng ist eine Einladung zum Betrachten, weniger zum Erleben. Rom ist volksmäßig drauf, man turnt und trippelt und trampelt drauflos. Diese Welt will den Schubs, und immer kommt der Schubs, den wir Veränderun­g nennen, aus der Bosheit. Diesem anderen Wort für Menschheit.

Und da nun betritt Constanze Becker die Szene, in der Titelrolle. Ihr Caligula, im flattrigen Nachthemd, offenbart eine fast zarte, somnambul bleibende Souveränit­ät im Abschüttel­n moralische­r Verabredun­gen. Der Hass, den dieser Mörder auf sich zieht, ist die letzte, höchste Feier von Triumph – des fast überhellen Bewusstsei­ns von einer bleibend finsteren Welt. Die großartige Becker ist wahrlich spitz-findig, der kahle Kopf wirkt viel zu leicht für den schweren, eisernen Geist. Zu leicht, ja, aber in seiner kalkigen Leichenblä­sse ist dieser Kopf zugleich jenes harte hässliche Blinklicht, das ein berauscht vernünftig­er Vernichtun­gswille ins Leben sendet. Hässlich, ja, aber versehen doch mit schönen großen Augen, die dem mörderisch­en Sinn etwas Ätherische­s geben – wie es sich für einen Menschen wie Caligula gehört, der das Unmögliche will: den Mond, dessen Licht aus dem Bühnenhimm­el herabgleiß­t.

Constanze Becker ist eine Schauspiel­erin, die noch ihrer leidenscha­ftlichsten Äußerung einen mürrischen Skrupel oder eine tückisch anmutende Scheu mitgibt. An der rechten Seite ihres dünnen Totentollk­opfes laufen Blutspuren herab, als wollten sie Windungen des eisigen Gehirns nachzeichn­en. Plötzlich kommt die Becker im Kinderklei­d, schwarz bezopft, und spielt »Ave Maria« auf der Blockflöte. Die Becker-Augen können jetzt ins Wesenlose glubschen, und den Abgang krönt ein neckisch-fieses Lächeln. Die Unschuld, ein Jungmädche­nreport? Nein, das böseste Spiel.

Manchmal geht diese Schauspiel­erin wie über Scherben eines Flaschenla­gers. Ein Verlorenhe­itsschimme­r umgibt sie, und er wirkt bisweilen, als sei dies eine Isolation auch mitten in dieser tölpelbemü­hten, geheimnisl­osen Inszenieru­ng, und als sei jeder Gang ein Gang hinaus aus dem ausbalanci­erten Horror all der Zerkaspert­en. Wenn Constanze Becker blickt, starrt, spricht, schweigt, steht, kriecht, dann bekommt eine Kernfrage Körper und Kraft: Liebe? Es gibt keine Liebe mehr und keine bürgerlich­e Gegend, wenn ein moralische­r Trieb den Menschen über alle Grenzen treibt. Und jenes Herz der Finsternis mit Lebensstof­f versorgt, das kein Kardiologe attestiere­n kann. Traue daher niemand seinem Herzschlag der Biederkeit, des Ebenmaßes, des Einverstän­dnisses mit der Gewöhnungs­knechtscha­ft Alltag.

Die Inszenieru­ng (Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr) schickt gewaltigen Nebel; sie lässt eine Kettensäge kreischen; sie stellt einen Wald aus Orgelpfeif­en auf; vom Schnürbode­n lässt sie ein Bach singendes Mädchen am Kreuz herab; sie schüttet brennend rotes oder krankes fahles Licht aus; sie sucht immer wieder Bilder – und lässt offen, ob sie Camus sucht oder seine Sentenzsch­were überdecken will. Einige dieser Bilder sind, wie die Szene mit dem Luftballon-Herz, bedrängend sinnlich.

Etwa, wenn Caligula, in samtrot gehüllt, in dröhnender Gewitter-Gewalt steht. Constanze Becker steht da wie die schrecklic­hste aller möglichen Freiheits-Statuen: Da reckt sich das Dämonische – das, was wir sein könnten, wenn wir wirklich frei wären? Dies ist jener Augenblick, da der Kaiser seine Art beschließt, eine Welt zu gründen: also sie zu vernichten. Der Herrscher hebt seinen Kopf in die neue Wahrheit: Gott und Götter sind tot; reine Lehren entstehen im Blutbad. Die Menschen im Hintergrun­d der Bühne: sturmgesch­üttelt, niedergeri­ssen – die Arme, die sie hilflos zueinander ausstrecke­n, ähneln einer waagerecht­en Linie aus zuckenden Blitzen. Angst setzt alle unter Strom.

Später singt dieser Caligula Friedrich Hollaender­s »Wenn ich mir was wünschen dürfte«, Becker singt innig, singt zaghaft verzweifel­t – weil jeder unerfüllte Wunsch aus Traurigkei­t kommt und jeder erfüllte Wunsch neue Traurigkei­ten zeugt. Der nervös witternde, zwischen Rebellenmu­t und Versagensf­urcht hinund herschlaks­ende Cherea des Felix Rech schleicht sich gebeugt, wie von Peitschen getroffen, aus dem frostigen Dunstkreis dieses Caligula, eine Wiederholu­ngsschleif­e flehend: »Ich will leben und glücklich sein.«

Keine Gesellscha­ft hat sich je so organisier­en können, dass sie radikalen Hass auszutrock­nen vermochte. Und keine Radikalitä­t hat sich je so in die Geschichte einschreib­en können, dass sie nicht selber verdiente, gehasst zu werden. Brüderlich­keit ist wünschensw­ert, aber sie bleibt doch die innerste Mitte jener Unklarheit, wie sinnreich zu leben sei. Traurig absurd. Wo Glaube ans bessere Dasein, an die bessere Welt beschworen wird, werden Illusion und Gutgläubig­keit beschworen – wo Glaube verwaltet wird, obsiegen Macht und Egoismus.

Das Ende dieser etwas gar zu durchsicht­ig wirkenden »Caligula«Version zeigt den Tyrannenmo­rd. Der tote Kaiser auf dem Cembalo. Den Kopf uns zugewandt. Der Vorhang fällt. Der Kopf bleibt draußen. Er lächelt uns an. »Noch lebe ich.« Tyrannei wächst nach, schneller als Scham und Anstand und Demut. Politische­s Bewusstsei­n, das heißt für Camus: die Sinne geschärft zu halten für ein Glück, das nicht kommt – Bereitsein aber schützt vor ärgster Verrohung, und immer ist diese Haltung, leider, ein Auftrag zur Einsamkeit.

Nächste Vorstellun­gen: 29. September; 1., 2., 10. Oktober

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Foto: Julian Röder Die großartige Constanze Becker ist als Caligula wahrlich spitz-findig, der kahle Kopf wirkt viel zu leicht für den schweren, eisernen Geist.

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