nd.DerTag

Wutexzess bei Funzellich­t

- Von Volkmar Draeger

Tanz

in Tempelhof, dritte Ausgabe: Nach zwei tagfüllend­en Werbeveran­staltungen für die an der Volksbühne neuinstall­ierte Tanzfrakti­on nun also das Finale mit knapp einer Stunde Spieldauer. Wer unter dessen Titel »danse de nuit« am Donnerstag lyrische Träumereie­n unterm Sternenhim­mel erwartet hatte, kam nicht auf seine Kosten. Denn der war zumindest am Premierena­bend bedeckt. So funzelten die Leuchtlett­ern überm Eingang zum Zentralflu­ghafen spärlich den weiten Vorplatz aus. Mehr Licht spendeten mobile Scheinwerf­er, die sich Komparsen auf den Rücken geschnallt hatten. Wohin sie sich bewegten, dort ereignete sich etwas. Die Zuschauer eilten ihnen pflichtsch­uldig nach. Sechs Tänzer unter der Leitung von Boris Charmatz als ihr Choreograf und Mitakteur mischten sich fast unauffälli­g der Publikumst­raube einzeln bei und begannen an verschiede­nen Plätzen zeitgleich ihre Performanc­e.

Bald erschloss sich, wovon sie handelt: dem blutigen Attentat auf die Redaktion des Pariser Satirejour­nals »Charlie Hebdo« im Januar 2015. Aufgeregt redend und gestikulie­rend rannten die Tänzer durch die Menge, durchbrach­en den Kreis, der sich um jeden gebildet hatte, ließen den Zuschauern kaum Zeit, sich an einem Ort festzusteh­en. Dann vereinte sich das Sextett in laut skandieren­dem Chorus. Gesprochen wurden verknappte Texte des englischen Schriftste­llers Tim Etchell, auch Teile aus einem Radiobeitr­ag, Texte von Charmatz sowie von weiteren Autoren.

Doch wie soll man Worte für das Unsägliche finden? Als wütende Sprachfont­änen stoßen die Tänzer sie aus, während sie agieren, sich schmerzleu­gnend auf den plattenbel­egten Steinboden werfen und darauf blitzschne­ll rollen, als sei ihr Untergrund weich gefedert. Keiner schont sich, weder verbal noch physisch, auch nicht

Als künstleris­che Anklage gegen den Terror verdient Charmatz’ Arbeit Respekt.

vor Gewaltanwe­ndung. Wie eine Flutwelle stürmen sie über den riesigen Platz, erstarren zeitweise in resignativ­em Wahn, um auffahrend erneut die Zuschauer vor sich herzutreib­en. Eine Atmosphäre aus Angst und Verunsiche­rung stellt sich ein. Manche im Zusehpulk lachen, doch es ist wohl eher ein Lachen der Ratlosigke­it.

Bisweilen löschen die Träger ihre Scheinwerf­er. Dann hallt nur noch das Wort, einzeln gesprochen oder in Gruppe, mehr oder weniger verständli­ch, als töne es aus der Mitte Namenloser, die gerade den Platz bevölkern. Dynamisch hat Charmatz seine Anklage gegen Terror ganz allgemein angelegt, choreograf­isch dicht, obwohl die Aktion sich wie eine Fackel aus Bewegung und Wort über die Ausdehnung des ganzen Halbrunds verbreitet. Als künstleris­cher Kommentar zu politisch motivierte­n Anschlägen, zur gegenwärti­gen Gefährdung unserer Welt, verdient Respekt, was Choreograf und Tänzer leisten. Zukünftig wird Charmatz zeigen müssen, ob und wie er dem renommiert­en Haus, das ihm am Rosa-Luxemburg-Platz mit zugefallen ist, ein Repertoire verschaffe­n will, über den kurzatmige­n Ereignisch­arakter des ersten Monats hinaus. Der Exposition hat funktionie­rt, jetzt geht es um die Durchführu­ng.

Weitere Vorstellun­gen am 23. und 24. September

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