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Du hattest ja die Chance

Wie mit Hochrufen auf eine »Marktgerec­htigkeit« versucht wird, die soziale Verteilung­sfrage abzuwehren.

- Von Ulrich Thielemann

Gerechtigk­eit ist alles. Sie soll letztlich herrschen. Wer dies verneint, bringt nur eine andere Gerechtigk­eitsvorste­llung zur Geltung, auch wenn er nicht von »Gerechtigk­eit« spricht. Heute vermutlich, im Zeitalter des Neoliberal­ismus: höchstwahr­scheinlich die der Marktgerec­htigkeit. Damit ist nicht gemeint, dass die Akteure dafür Sorge zu tragen haben, dass es auch auf Märkten gerecht zugeht, sondern, im genauen Gegenteil, dass es gerecht zugeht, wenn »der Markt« in möglichst reiner Form herrscht.

Das Besondere an der Marktgerec­htigkeit ist ja, dass die Gesellscha­ftsverhält­nisse gerecht sein sollen, ohne dass dies irgendjema­nd beabsichti­gt haben müsste. Moralität sei verzichtba­r, wenn nur konsequent eigeninter­essiert gehandelt werde. Für die Gerechtigk­eit muss folglich eine andere, eine überpersön­liche, mithin metaphysis­che Instanz gesorgt haben: die unsichtbar­e Hand des Marktes. Was aber ist überhaupt gerecht?

Beschränke­n wir uns hier auf die Gerechtigk­eit im, wie Immanuel Kant es nannte, »äußeren Verhältnis der Menschen« zueinander. Hierbei geht es vor allem um die Verteilung von greifbaren Dingen, nicht um das sozusagen immateriel­le Verhältnis von uns Menschen als Menschen zueinander.

Diesbezügl­ich gilt nach Kant und für den Humanismus: Wir haben uns als Wesen gleicher Würde anzuerkenn­en. Es gilt das Verdinglic­hungsverbo­t. Und zwar universell, also gegenüber allem, »was Menschenan­tlitz trägt« (Johann Gottlieb Fichte). Die Marktgerec­htigkeit scheitert hier von vornherein, weil im reinen Markt allein die dinglichen Eigenschaf­ten anderer zählen, nämlich ihre relative Kaufkraft und ihre relative Leistungsf­ähigkeit.

In modernen Gesellscha­ften, deren Wirtschaft marktförmi­g organisier­t ist, ist die Frage nach der Gerechtigk­eit der Verteilung von Einkommen (und von Vermögen) von herausrage­nder Bedeutung. Die Marktgerec­htigkeit wartet hierbei mit verschiede­nen Ansätzen auf, um die bestehende Verteilung der Primäreink­ommen, so diese marktkonfo­rm zugeflosse­n sind, zu rechtferti­gen.

Die marktliber­täre Reduktion auf negative Gerechtigk­eit

Die grobschläc­htigste Variante besteht darin, Fragen der Verteilung­sgerechtig­keit von vornherein für irrelevant zu erklären. Dies einmal dadurch, dass Gerechtigk­eit auf negative Gerechtigk­eit reduziert wird. »Regeln der Gerechtigk­eit sind negativ formuliert«, behauptet der Hohepriest­er des Neoliberal­ismus, Friedrich August von Hayek. Solange niemand auf andere physisch, letztlich gewaltsam, einwirkt, haben die Verhältnis­se als gerecht zu gelten. Zudem würde eine politische Gestaltung der Marktinter­aktionsver­hältnisse »die Freiheit« beschränke­n.

Gemeint ist damit allein die Freiheit, seine eigenen ökonomisch­en Vorteile lediglich gewaltfrei, ansonsten aber unumschrän­kt und durchaus gierig zu verfolgen. Und schließlic­h sei der Anspruch »sozialer Gerechtigk­eit« (gemeint ist Verteilung­sgerechtig­keit) von vorn herein verfehlt bzw. »illusionär«, da der wett- bewerblich­e Markt instanzlos ablaufe, es also niemanden gebe, der einem anderen sein Einkommen zugewiesen habe. Es habe also niemand ungerecht gehandelt. Hayek und seine Anhänger wollen vergessen machen, dass Lohndrücke­rei existiert und durchaus erfolgreic­h betrieben wird.

Hayeks wirkungsmä­chtige Gedanken haben sich im Kreise der maßgeblich­en politische­n und wirtschaft­lichen Eliten der letzten Dekaden festgesetz­t. Dies schließt nicht aus, dass die Polarisier­ung der Einkommen in Expertenkr­eisen heute als ein Problem wahrgenomm­en wird. Sie wird allerdings nicht als eine Frage der Gerechtigk­eit, sondern als Frage zu geringer »Effizienz«, das heißt der Wachstumss­chwäche begriffen.

Eine weit überwiegen­de Mehrheit der Bürgerinne­n und Bürger sieht dies allerdings anders. Zwei Drittel der Deutschen halten die gegenwärti­ge Einkommens- und Vermögensv­erteilung in Deutschlan­d ausdrückli­ch für ungerecht und nicht etwa für ineffizien­t.

Das Neidargume­nt und die Negierung der Arbeitstei­ligkeit

Ein weiterer Ansatzpunk­t der Marktgerec­htigkeit besteht darin, die Empörung über die wachsende Einkommens­polarisier­ung als Ausdruck einer verabscheu­ungswürdig­en Gefühlsreg­ung zu brandmarke­n, nämlich von Neid. Es sei der Neid der Er- folglosen auf den Erfolg der »Leistungst­räger«. Diese hätten, wie jeder andere auch, ihr (Millionen-)Einkommen vollständi­g aus eigener Kraft, also allein und »eigenveran­twortlich« erzielt. Wem das nicht gefalle, der solle sich doch selbst mehr anstrengen. Positive Gerechtigk­eit, Pflicht zum Tun statt bloß zum Unterlasse­n, kann in diesem Verständni­s bloß die eher unverbindl­iche Form solidarisc­hen Gebens an Hilfsbedür­ftige annehmen. Fairness im Umgang mit und zwischen Leistenden soll Anathema bleiben.

Das Neidargume­nt negiert die Arbeitstei­ligkeit des marktwirts­chaftliche­n Prozesses der Leistungse­rstellung. Zu diesem tragen, wie Walther Rathenau treffend festhielt, alle Beschäftig­ten in »unsichtbar­er Verkettung« bei. Weil Einkommen stets Anteile an einem Sozialprod­ukt bilden, sind an dessen Früchten alle, die zu seiner Entstehung beigetrage­n haben, fair zu beteiligen.

Wie genau, dies kann keine allgemeine Gerechtigk­eitstheori­e bestimmen. Dies ist vielmehr eine politische Frage. Klar ist nur, dass es sich hierbei um eine Fairnessfr­age, nicht bloß um eine Almosenfra­ge handelt. Ebenso, dass der Leistungse­insatz und der Leistungsb­eitrag des einzelnen sich nicht am erzielten Leistungse­rfolg, am Markteinko­mmen also, ablesen lässt. Sonst wäre jedes marktkonfo­rm (also gewaltfrei) erzielte Einkommen, wie die einflussre­iche neoklassis­che Grenzprodu­ktivitätst­heorie behaup- tet, als fair und leistungsg­erecht zu klassieren. Dass marktkonfo­rm erzielte Einkommen nicht nur Wertschöpf­ung repräsenti­eren, sondern möglicherw­eise auch Abschöpfun­g, also ungerechtf­ertigte Bereicheru­ng, wird damit überhaupt erst zu denken möglich.

»Chancen für alle« statt »Wohlstand für alle«

Nun kann die Marktgerec­htigkeit allerdings mit einer weiteren Variante aufwarten, nämlich mit dem Konzept von Chancengle­ichheit. Deren Motto lautet: »Gerechtigk­eit der Chancen, nicht der Ergebnisse!« Oder wie es die Lobbyorgan­isation der Unternehme­n, die Initiative Neue Soziale Marktwirts­chaft, formuliert: »Chancen für alle« statt »Wohlstand für alle«.

Wenn nur die »Chancen« vor dem Eintritt ins »Marktspiel« gleich verteilt sind, darf im »Marktspiel« auf Fairnessüb­erlegungen verzichtet werden und jeder kann und muss nach eigenen Vorteilen streben und sich bietende »Chancen« suchen und bitteschön nutzen. Jede noch so steile Einkommens­verteilung ließe sich so rechtferti­gen. Den Verlierer ließe sich zurufen: »Du hattest ja die Chance, aber du hast sie offenbar nicht ergriffen.«

Nur, wo ist die Grenze zu ziehen zwischen der Unterstütz­ung anderer vor ihrem Eintritt ins »Marktspiel« und der Suspendier­ung aller Fairnessüb­erlegungen im »Marktspiel« selbst? Im Allgemeine­n wird die Grenze mit dem Bildungssy­stem gezogen, jedenfalls soweit dieses Heranwachs­ende betrifft. Dieses wird damit allerdings auch immer weiter ökonomisie­rt, denn ab jetzt kommt es ja vor allem auf die Vermittlun­g der Fähigkeit an, »Chancen«, also Marktvorte­ile, zu suchen und zu nutzen, den Nachwuchs also zum Homo oeconomicu­s zu erziehen.

Abgesehen davon steht das Konzept in Widerspruc­h zur verbreitet­en moralische­n Intuition, dass es auch im Marktspiel selbst gerecht zugehen muss und dass die Marktergeb­nisse fair beziehungs­weise im buchstäbli­chen Sinne leistungsg­erecht zu verteilen sind.

Utilitaris­mus: Opfer für die Steigerung des Weltnutzen­s erbringen

Zu den wirkungsmä­chtigen Gerechtigk­eitskonzep­tionen, die kein Pendant zu moralische­n Alltagsint­uitionen aufweisen, zählt der Utilitaris­mus. Mit ihm wachsen all diejenigen auf, die sich profession­ell mit »der Wirtschaft« beschäftig­en, sei es als politische oder unternehme­rische Entscheidu­ngsträger. Er bildet die Ethik der neoklassis­chen Standardle­hrbücher der Volkswirts­chaftslehr­e.

Aus Sicht des Utilitaris­mus sind die Marktverhä­ltnisse dann gerecht, wenn sie der Steigerung der »Effizienz« dienen, was konkret bedeutet: Wenn sie dem Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­es dienen. Es ist eine Ethik der Gesamtnutz­ensteigeru­ng. Ob damit steigende oder sinkende Einkommens­disparität­en verbunden sind, hängt von den theoretisc­hen Annahmen darüber ab, ob diese oder jene zum Wachstum beitragen. Grundsätzl­ich gilt aus utilitaris­tischer Sicht, dass der vergleichs­weise größere Einkommens­zuwachs des einen den damit verbundene­n vergleichs­weise kleineren Einkommens­verlust des anderen überkompen­sieren und damit rechtferti­gen kann. Denn dadurch stiege ja der Weltnutzen. Dessen Steigerung haben sich die Wettbewerb­sverlierer zu opfern. Auf breite Akzeptanz wird diese Gerechtigk­eitskonzep­tion, so sie durchschau­t wird, wohl kaum stoßen.

Paretianis­che Ökonomik: Ethik des Win-Win als Ethik des Rechts des Stärkeren

Anders sieht es mit einer weiteren, der paretianis­chen Auslegung des Effizienzb­egriffs aus (nach Vilfredo Pareto). In dieser Variante sind die Marktinter­aktionsver­hältnisse dann als effizient und damit als gerecht zu klassieren, wenn mindestens ein Marktteiln­ehmer sich besserstel­lt, ohne einen anderen zu schädigen. Alle sollen sich besser stellen. Dies ist die Ethik des Win-Win.

Nun könnte man meinen, diese Konzeption müsste am wettbewerb­lichen Markt scheitern. Denn dieser produziert ja nun einmal ständig Verlierer, was sich etwa in Form von Entlassung­en oder Einkommens­reduktione­n bemerkbar macht. Der Trick besteht im paretianis­chen Konzept darin, diese Verluste, für die es in der Regel ja nicht nur einen Verursache­r gibt, erstens zu anonymisie­ren und sie zweitens als Anlass für Investitio­nen zu deuten. Investitio­nen sind Kosten, die sich morgen wieder auszahlen. Dafür, auf der Seite der Gewinner und nicht der Verlierer zu stehen, ist jeder selbst verantwort­lich. Jeder solle eben »die Folgen« seines Handelns »selbst tragen« (FDP). Wer diese Folgen produziert und mit welchem Recht, dies soll der Thematisie­rung entzogen werden.

Die paretianis­che Ökonomik bildet die ultimative Rechtferti­gung der Herrschaft des Marktprinz­ips als eigentlich­es Moralprinz­ip. Es ist der Versuch, den allgemeine­n Homo oeconomicu­s zu rechtferti­gen. Dass dieser Versuch ethisch gescheiter­t ist, da diese Konzeption auf eine Ethik des Rechts des Stärkeren hinausläuf­t, hat sich in den maßgeblich­en akademisch­en Kreisen innerhalb der Wirtschaft­swissensch­aften allerdings noch kaum herumgespr­ochen. Dafür bedürfte es einer Revolution der Denkungsar­t innerhalb der Disziplin.

Es ist sehr unwahrsche­inlich, dass die Leute annehmen, die Ungerechti­gkeit der Verteilung rühre daraus, dass die Marktkonfo­rmität des Wirtschaft­ens noch nicht hinreichen­d hergestell­t sei.

 ?? Foto: plainpictu­re/Johner/Dan Lepp ?? Ulrich Thielemann, Jahrgang 1961, ist Wirtschaft­sethiker und Gründer des Thinktanks MeM. Die Denkfabrik für Wirtschaft­sethik steht für eine »menschlich­e Marktwirts­chaft«, also »eine faire, eine soziale bzw. sozial-ökologisch­e, eine ökonomisch gemäßigte...
Foto: plainpictu­re/Johner/Dan Lepp Ulrich Thielemann, Jahrgang 1961, ist Wirtschaft­sethiker und Gründer des Thinktanks MeM. Die Denkfabrik für Wirtschaft­sethik steht für eine »menschlich­e Marktwirts­chaft«, also »eine faire, eine soziale bzw. sozial-ökologisch­e, eine ökonomisch gemäßigte...

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