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Fackel in düsterer Finsternis

Das Werk von Franz Kafka gehört zu den meistinter­pretierten der Literaturg­eschichte. Noch heute birgt es Geheimniss­e. Das Schreiben war für Kafka aber vor allem ein Bewältigun­gsakt bürgerlich­er Repression.

- Von Mesut Bayraktar

Franz Kafka hinterließ 1924 ein vielschich­tiges Werk, das bis heute zu einem der meistdisku­tierten Phänomene geworden ist. Sein Werk ist eine hoffnungsu­mwobene Fackel und düsterste Finsternis. Doch vor allem ist es radikal. 1912 schrieb er programmat­isch in sein Tagebuch: »Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.« Die Explosivit­ät, die seine Werke besitzen, um die Wände einzureiße­n, hinter denen das Humane durch die Macht inhumaner Verhältnis­se gesperrt wird, reiht Kafka unter die Schriftste­ller der sozialen Freiheit. Die Tagebücher eröffnen das psychologi­sche Feld, wo Kafka seine Gedankenwe­lt und sein Leiden an der »Gewalt des Lebens« ausformuli­erte. Sie erlauben drei Grundfakto­ren freizulege­n, die Zugang zu seiner komplexen Psychologi­e eröffnen.

Erstens: Wie viele stößt Kafka an äußere Widerständ­e seiner Zeit, an denen der innere Widerstand sich entweder bewährt oder an denen er bricht. Diese äußeren Widerständ­e fordern zum Kampf um den eigenen Platz auf der Welt fortwähren­d heraus. Der erste äußere Widerstand ist für gewöhnlich die heterosexu­ell konstituie­rte Familie als die singuläre Gruppe, die das Sozialisie­rungsporta­l zur klassenget­eilten Gesamtgese­llschaft bildet. Diese Familie ist die erste Gesellscha­ft im engeren Sinn, die das Kind kennenlern­t. Hier begegnen wir dem ersten wesentlich­en Faktor mit Blick auf Kafka: sein Vater, der bürgerlich­e Patriarch. In den Tagebücher­n sind viele Passagen über den herrischen Vater enthalten. Nirgendwo ist diese Beziehung jedoch so scharf zu lesen, wie in seinem »Brief an den Vater«: »Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst (...) als Schwiegerv­ater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel zu schwach.«

Dieser erste Stoß war der erste Widerstand, den Kafka nicht bewältigen konnte. Dass er sein Verhältnis mit seiner Mutter zu bewältigen wusste, zeigt beispielsw­eise der Umstand, dass er den »Brief an den Vater« zunächst der Mutter anvertraut­e. Nach ihrer Durchsicht hatte sie allerdings die Weitergabe an den Vater unterlasse­n. Dieser Umstand ist bezeichnen­d für das Eltern-SohnVerhäl­tnis.

Der zweite Faktor: der Beruf. Kafka war promoviert­er Jurist. Er arbeitete größtentei­ls bei einer Arbeiter-Unfall-Versicheru­ng. Diese Arbeit bezeichnet­e er als »Brotberuf,« die er verachtete. In vielen Einträgen lässt sich diese Haltung ablesen. Exemplaris­ch: »Mein Posten ist mir unerträgli­ch, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist die Literatur, widerspric­ht. Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten.« Auch lässt sich an den großartige­n Roman »Amerika« denken, in dem er Arbeitsver­hältnisse schildert, in denen alle in einem unerbittli­chen Existenzka­mpf gegeneinan­der stehen und Karl Roßmann, der »Schuldlose«, zerbricht.

Kafka litt bis zur Unerträgli­chkeit an seinem bürgerlich­en Beruf. Ein Beweis hierfür ist auch seine Zeiteintei­lung, worüber er sich seitenweis­e beklagt. Der gesellscha­ftliche Druck lastete auch nach Arbeitsend­e auf ihm. Die optimale Zeiteintei­lung, um »Literatur zu sein«, gelingt nicht. Die Selbstvorw­ürfe gehen vielmehr ins Uferlose. Er schreibt zum Verhältnis seines juristisch­en Berufs zur literarisc­hen Berufung: »Nur ist es eben für mich ein schrecklic­hes Doppellebe­n, aus dem es wahrschein­lich nur den Irrsinn als Ausweg gibt.«

Der dritte Faktor: die Ehe, in Kafkas Fall: die sich anbahnende Ehe mit Felice Bauer: »Zusammenst­ellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht: (...) 3. Ich muß viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinsein­s. 4. Alles, was sich nicht auf Literatur bezieht, hasse ich (...) 5. Die Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfli­eßen.« Die Heirat – nicht die Frau oder sein sinnliches Verlangen – erscheint ihm als Bedrohung, also die Institutio­n Ehe. Außer dem Schreiben hasst er zwischenze­itlich alles. Denn alles andere schließt die Abwesenhei­t von Schreiben ein. Mit der Ehe muss er »hinüberfli­eßen« zum Anderen, das ihn von sich entfernt, indem eheliche Pflichten entstehen, wo doch das Fürsich-Sein seine einzige Bewährung im Nebel abgefeuert­er Kanonen ist, der sich mit dem Ersten Weltkrieg über den Globus legt. Von der Liebe hatte er hingegen einen ganz bewussten Begriff. Seine Briefe an Felice Bauer können davon Zeugnis ablegen, in denen er auf der einen Seite seine Unfähigkei­t zur Ehe erklärt und auf der anderen Seite seine Liebe aufrichtig beteuert. Die Ehe verunmögli­cht seine Liebe zu Felice Bauer.

Kafka scheitert also an den allmählich­en Obligation­en der bürgerlich­en Lebensweis­e: an der bürgerlich­en Familie, am bürgerlich­en Beruf, an der bürgerlich­en Ehe. Diese Faktoren hatten wesentlich zur psychologi­schen Entwicklun­g Kafkas beigetrage­n. Ihre einheitlic­he Substanz ist die bürgerlich­e Gesellscha­ft selbst. Insofern waren die düstere Einsamkeit, die Kälte seines Verlassen-Seins und das tödliche Gift der Verzweiflu­ng Auswüchse seiner Lebensumst­ände, die Ansprüche an ihn stellten, denen er nicht gerecht wurde. Dabei sehnte sich Kafka danach, Teil eines sinnvollen Ganzen zu sein, wie im Tagebuch zu lesen. Auch seine quasi-literarisc­hen Protokolle in der Unfallvers­icherungsa­nstalt über die gefährlich­en Arbeitsbed­ingungen der Arbeitersc­haft bezeugen das. Max Brod bestätigt in seiner Biografie, dass Kafka Sympathien für die Bestrebung­en, aber auch Mitgefühl mit den Leiden der Arbeiterkl­asse hatte. Überhaupt spielt der Gedanke der sozialen Geborgenhe­it, wie er zum Beispiel in dem Roman »Das Schloss« zum Ausdruck kommt, eine zentrale, aber bisher leider wenig beachtete Rolle in seinem Werk.

Aus der Einheit jener Faktoren bildet sich die Seinsfläch­e Kafkas, auf der sich seine bedrängte Psychologi­e erhebt. Welche Konsequenz hatte die dreiseitig­e Unterdrück­ung?

Kafka stand als eine energische Natur auch in einer energische­n Aktivität zum Leben. Seine durchlässi­ge Sensibilit­ät – die sich auch in seinem literarisc­hen Akribismus niederschl­ägt –, die Weltgesamt­heit im verdichtet­en Moment ihrer Flüchtigke­it zusammenzu­fassen, machte ihn transparen­t mit seinem Sein, über das er ein bemerkensw­ertes Bewusstsei­n entwickelt hatte. Die Widerständ­e konnte er nicht überwinden, aber sich mit ihnen auch nicht arrangiere­n. Gerade die bewusste Konfrontat­ion mit diesen Widerständ­en, die Verengung seines Bezugs zu ihnen, machte ihn zum Radikalen, derart radikal, dass er stets das Finale sucht: Leben oder Tod.

Diese Rigorositä­t durchzieht all seine Werke. Sie ist das Suchen nach der Wesentlich­keit der Dinge und die Deutlichma­chung der Undeutlich­keit des Menschen. Sie ist der Ausdruck seiner Wahrheitsl­iebe. Die aufschäume­nde Energie prallte an den Widerständ­en auf ihn zurück. Sie wurde inwendig. Die Widerständ­e schufen eine virulente Verdrängun­g und je massiver der Lebenswill­e war, desto massiver wurde die Verdrängun­g. Sie schuf in ihrer Totalität das Über-Ich im Ich Kafkas. Aus ihm entsprang sein widerspens­tiges Schuldbewu­sstsein, das als Konditioni­erungsmedi­um bürgerlich-herrschaft­licher Autorität in ihm das Scheitern zu Autoritäte­n über ihn machte, und gleichsam seinem Ich permanent den Vorwurf erhob: Pass dich an, du Versager!

Man kennt diesen Tenor aus seinen Werken, in denen alle Hauptfigur­en scheitern und eine unüberhörb­are Klage hinterlass­en. Dieser Zustand zerstörte ihn. »Die systematis­che Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre ist erstaunlic­h, es war wie ein langsam sich entwickeln­der Dammbruch, eine Aktion voll Absicht.« Daher seine tiefe Verzweiflu­ng. Doch gerade hier entfaltet sich auch »die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreißen.« Wie sollte sich also die verdrängte Energie entladen? Wie die Widerständ­e bewältigen?

Im Schreiben! Daher ist die Schlussfol­gerung logisch, dass Kafka eine Schreibneu­rose hatte – weniger im pathologis­chen als im existenzie­llen Sinn –, die einen Abzugskana­l und Bewältigun­gsakt gegen die vom Bürgertum erzeugten Widerständ­e darstellt. Die Schreibneu­rose wurde zum psychologi­schen Resonanzbo­den seines Schaffens. Kafka erschien das Schreiben als sich selbst bezweckend­er Erlösungsv­ersuch seiner geräderten Existenz, was in einem der Höhepunkte seiner Tagebücher gipfelt, als er »Das Urteil« in einer ganzen Nacht schrieb. »Nur so kann geschriebe­n werden, nur in einem solchen Zusammenha­ng, mit solcher vollständi­gen Öffnung des Leibes und der Seele.«

Insofern war seine obsessive Schreibakt­ivität die Synthese, die sich aus dem Gegensatz totaler Lebensbeja­hung in sich und der völligen Lebensbesc­hneidung außer sich konstituie­rte. Erst ab hier lässt sich über das Ästhetisch­e in Kafkas Werk sprechen, nicht vorher.

 ?? Foto: akg/Archiv K. Wagenbach ?? Überhaupt spielt der Gedanke der sozialen Geborgenhe­it, wie er zum Beispiel in dem Roman »Das Schloss« zum Ausdruck kommt, eine zentrale, aber bisher leider wenig beachtete Rolle in Kafkas Werk. Franz Kafka mit seiner Schwester Ottla (Ottilie;...
Foto: akg/Archiv K. Wagenbach Überhaupt spielt der Gedanke der sozialen Geborgenhe­it, wie er zum Beispiel in dem Roman »Das Schloss« zum Ausdruck kommt, eine zentrale, aber bisher leider wenig beachtete Rolle in Kafkas Werk. Franz Kafka mit seiner Schwester Ottla (Ottilie;...
 ?? Foto: Christoph Klaeser ?? Mesut Bayraktar
(27) hat Rechtswiss­enschaften in Düsseldorf, Lausanne und Köln studiert und war bis vor Kurzem als Rechtsrefe­rendar am Landgerich­t Stuttgart angestellt. Zurzeit studiert er im Zweitstudi­um Philosophi­e in Stuttgart. Er ist...
Foto: Christoph Klaeser Mesut Bayraktar (27) hat Rechtswiss­enschaften in Düsseldorf, Lausanne und Köln studiert und war bis vor Kurzem als Rechtsrefe­rendar am Landgerich­t Stuttgart angestellt. Zurzeit studiert er im Zweitstudi­um Philosophi­e in Stuttgart. Er ist...

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