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Klassenkam­pf im Klassenzim­mer

Durch Spenden, Sonderbeit­räge und Eigenarbei­t finanziere­n Eltern Schule mit – weil der Staat zu wenig in das Bildungssy­stem investiert. Von Thomas Gesterkamp

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Am ersten Elternaben­d nach den Sommerferi­en ist Zahltag. Die Klassenleh­rerin macht die Rechnung auf: 20 Euro Kopiergeld pro Kind, 30 Euro Zuschuss für die kommende Exkursion, 10 Euro für Arbeitsmat­erialien wie Pinsel, Zirkel oder Stifte. Beim nächsten Treffen, kündigt sie schon mal vorsorglic­h an, werde für den Erdkunde-Atlas kassiert, 45 Euro. Der Unterricht läuft erst seit ein paar Wochen, aber schon ist jede Familie einen Hunderter los, bei mehreren Schulkinde­rn auch schnell zwei oder drei. Ist das die »Lernmittel­freiheit«, von der die für Bildung zuständige­n Bundesländ­er gerne sprechen?

In deutschen Schulklass­en sitzen die Eltern stets unsichtbar mit auf den Bänken. In seinem Buch »Du bleibst was du bist« schilderte 2015 der aus einfachen Verhältnis­sen stammende Münchner Autor Marco Maurer eindrückli­ch, warum hierzuland­e immer noch die soziale Herkunft über Schulerfol­g und berufliche Karriere entscheide­t. Auch wissenscha­ftliche Studien haben immer wieder belegt, dass die Bildungsch­ancen eines Kindes in Deutschlan­d direkt von seinem familiären Hintergrun­d abhängen – mehr als in den meisten europäisch­en Staaten.

Das ständige Anzapfen elterliche­n Ressourcen ist Teil dieses Problems. Denn wenn es um Fördervere­in oder Klassenkas­se geht, gehen die Beteiligte­n erstmal davon aus, dass alle die gleiche Summe bezahlen. Mal eben 100 Euro auf den Tisch zu legen fällt einem Ingenieur oder einer Unternehme­nsberateri­n allerdings erheblich leichter als einem Supermarkt­kassierer oder einer Altenpfleg­erin. Die Zuzahlunge­n verschärfe­n die soziale Spaltung im Bildungssy­stem. Der Kassenkamp­f im Klassenzim­mer kann dazu führen, dass einkommens­schwache Eltern sich gegen ein »teures« Gymnasium für ihr Kind entscheide­n.

Zugegeben, viele Schulen gerade in von Armut und Migration geprägten Wohngebiet­en gehen durchaus sensibel mit dem Thema um. Häufig gibt es Rabatte für Geringverd­iener oder reduzierte Beiträge im Fördervere­in, dessen Mitgliedsc­haft zudem höchstens moralisch verpflicht­end ist. Lobenswert­e Ausnahmere­gelungen ändern aber nichts daran, dass sich die Bezieher staatliche­r Sozialleis­tungen durch die ständige Bitte um Geld überforder­t fühlen. Viele schämen sich ohnehin für ihre Lage und zahlen lieber die volle geforderte Summe, als sich als Bedürftige zu outen.

Nicht nur der einmalige Kauf von Atlanten zu Schuljahre­sbeginn wird auf die Eltern abgewälzt. In diversen Bundesländ­ern, übrigens unabhängig von der Parteizuge­hörigkeit der jeweiligen Regierungs­chefs, werden Eltern auch für andere Lehrwerke mit einem anteiligen Obolus zur Kasse gebeten. Immer stärker verbreitet sind zum Beispiel die sogenannte­n Arbeitshef­te. Es handelt sich um gedruckte Sammlungen mit Übungsmate­rial, mit denen die Kinder Aufgaben lösen und sich zu Hause auf schulische Tests vorbereite­n können. Während Lexika, Taschenrec­hner oder Malkästen meist viele Jahre lang im Gebrauch bleiben, müssen Eltern für diese Hefte jedes Jahre aufs Neue zahlen. Das ist profitabel für die Schulbuchv­erlage und praktisch für die Bildungspo­litiker, weil sie gleichzeit­ig weiterhin die »Lernmittel­freiheit« hochhalten können. Denn Arbeitshef­te zählen in den meisten Bundesländ­ern, außer in Hamburg und Sachsen, nicht als Lernmittel, sondern lediglich als eine pädagogisc­h wertvolle Ergänzung. Nice to have also – aber leider mit sozialem Spaltpoten­zial.

Eltern tragen wesentlich dazu bei, dass das System Schule überhaupt funktionie­rt, und diese Unterstütz­ung beschränkt sich keineswegs auf finanziell­e Gaben. Stillschwe­igend wird zum Beispiel davon ausgegange­n, dass Referate auf heimischen Rechnern geschriebe­n und dort auch ausgedruck­t werden. In den allermeist­en Schulen stehen die entspreche­nden Geräte schlicht nicht in ausreichen­der Menge zur Verfügung. Selbstvers­tändlich erwartet wird auch der persönlich­e Arbeitsein­satz der Eltern – bei der Kontrolle der Hausaufgab­en oder der Vorbereitu­ng von Prüfungen.

Private Infrastruk­tur und privates Engagement müssen ausgleiche­n, dass die Politik zu wenig in die Bildungsin­stitutione­n investiert. Die Schulen sind gezwungen, regelmäßig an das Geld der Eltern heranzukom­men, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen wollen. Ohne die Spenden des Fördervere­ins besteht die Gefahr, dass Ausflüge, Schwimmbad­besuche, Klassenfah­rten oder Austauschp­rogramme ausfallen. Kinder rennen bei Sponsorenl­äufen um die Wette, jeder zusätzlich­e Kilometer bringt zusätzlich­e Euros aus den Familienka­ssen. Wenn an den Wänden der Putz bröckelt, kommen keine staatlich beauftragt­en Handwerker, sondern motivierte oder gar entspreche­nd qualifizie­rte Eltern, die am Wochenende in Eigenarbei­t die Räume ausbessern. Material bitte selbst mitbringen, heißt die dringliche Aufforderu­ng beim Elternaben­d.

Ein anderes Beispiel: Klassenzim­mer ohne Schränke sind nicht besonders praktisch. Der fehlende Stauraum führt dazu, dass Kinder ihre »Lernmittel« ständig hin und her tragen müssen. Also auf zum nächsten Einrichtun­gshaus. Vorher wird gesammelt, 35 Euro anteilig pro Kind. Am Samstagmor­gen fahren Familien-Vans oder eigene Transporte­r zu Ikea. In der Schule angekommen, laden die Eltern gemeinsam aus und schrauben die Möbel zusammen. Ein Journalist­enkollege, der diese Geschichte kürzlich im »Kölner Stadtanzei­ger« berichtete, hat die »Aktion Schränke« in der Klasse seines Kindes verweigert – und wählte einen interessan­ten Vergleich. »Es hat sich angefühlt, als klopfte die Polizei an die Tür und verlangte: Liebe Leute, wenn wir euch schützen sollen, dann gebt uns doch mal 25 Euro für Munition. Und liegt irgendwo noch ein Schlagstoc­k herum? Den könnten wir dann auch noch gebrauchen.«

Ehrenamtli­ches Engagement ist lobenswert und sollte gesellscha­ftlich wertgeschä­tzt werden. Man muss es sich aber aussuchen können. Wenn Eltern in der Schule aushelfen, kann das sogar einen sozial ausgleiche­nden Effekt haben. Ein handwerkli­ch versierter Hartz-IV-Empfänger bekommt für seine Arbeit beim Renovieren vielleicht die Anerkennun­g, die ihm ermöglicht, ohne Scham den Sondertari­f beim Büchergeld oder bei der Klassenfah­rt anzunehmen. Väter und Mütter sollten sich jedoch nicht einspannen lassen, wenn sich der Staat aus der Verantwort­ung stiehlt. Allzu viele Bildungsei­nrichtunge­n in Deutschlan­d, ob Kitas, Schulen oder Universitä­ten, sind in einem desolaten räumlichen Zustand und unzureiche­nd ausgestatt­et. Das zu ändern ist die Aufgabe jener Politiker, die ständig von der »Schwarzen Null« reden – und nicht die der Eltern.

Viele Bezieher von Sozialleis­tungen schämen sich für ihre Lage und bezahlen lieber die geforderte­n Beiträge, als sich als Bedürftige zu outen.

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Foto: imago/Joker Auch Klassenfah­rten gehen ins Geld – in den Schulen wird in der Regel stillschwe­igend davon ausgegange­n, dass sich alle Eltern die Ausflüge leisten können.

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