Macht Mozart schlauer? Mit einer speziellen Variante des fMRT-Verfahrens werden die Verbindungen innerhalb des Gehirns untersucht. So will man etwa Abweichungen bei Legasthenie finden.
Studie zeigt: Selbst unter neurowissenschaftlich gebildeten Menschen sind falsche Vorstellungen über das Gehirn weit verbreitet. Von Martin Koch
Das menschliche Gehirn ist das komplexeste Gebilde im uns bekannten Universum. Obwohl es nur rund 1350 Gramm wiegt, beherbergt es etwa 86 Milliarden Nervenzellen, die durch 100 Billionen Synapsen zu einer einzigartigen Struktur verbunden sind. Diese zu erforschen, hat Wissenschaftler schon seit jeher fasziniert. Dank moderner bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) ist die Zahl der Veröffentlichungen über die Funktionsweise des Gehirns in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Doch viele der als neu gepriesenen Erkenntnisse haben sich im Nachhinein als nicht haltbar erwiesen. Sie wurden deshalb der Kategorie Neuromythen zugeordnet. Ihrer Verbreitung indes hat dies nicht geschadet. Im Gegenteil. Da sie häufig dazu dienen, traditionelle Vorurteile über das Denken und Fühlen von Menschen zu stützen, haben Neuromythen namentlich in der Ratgeberliteratur einen festen Platz gefunden.
Dort liest man zum Beispiel immer wieder, dass der Mensch nur einen Teil seiner Hirnkapazität nutze. Von zehn Prozent ist häufig die Rede. Das heißt im Umkehrschluss: 90 Prozent unseres Gehirns liegen sozusagen brach und warten gleichsam darauf, aktiviert zu werden. Kurse, die so etwas angeblich ermöglichen, bietet unter anderem die Scientology-Sekte an. Nun wäre es gewiss nicht schlecht, wenn wir unsere Gehirnleistung auf einen Schlag vervielfachen könnten. Nur leider funktioniert das nicht. Denn die These vom nicht ausgelasteten Gehirn ist ein Neuromythos, der aber durch die modernen bildgebenden Verfahren zusätzlich genährt wird.
Diese erwecken nämlich den Eindruck, dass bei bestimmten Tätigkeiten nur einige wenige Areale unseres Gehirns aktiv sind. Auf Hirnbildern leuchten diese Areale, da sie etwas stärker durchblutet sind, in einem kräftigen Rot, während andere Bereiche eher grau schimmern. Doch die schöne neue Bilderwelt ist trügerisch. Denn sie bietet keine Originalaufnahmen des Gehirns. Die Hirnscans werden von Wissenschaftlern bearbeitet – zu dem Zweck, die ge- ringen Blutflussunterschiede in verschiedenen Hirnregionen deutlicher hervorzuheben. »Tatsächlich geht’s im Gehirn überall richtig zur Sache. Ständig verändert sich die Durchblutung in sämtlichen Hirnbereichen, jede Region passt ihre Aktivität permanent an«, sagt der Hirnforscher Henning Beck.
Und noch etwas spricht gegen die These von der weitgehend brach liegenden Hirnkapazität des Menschen: Wären tatsächlich nur zehn Prozent unseres Denkorgans in Betrieb, hätten lokale Schädigungen des Gehirns, wie sie infolge von Krankheiten oder Unfällen auftreten, bei den meisten Betroffenen keine körperlichen oder psychischen Ausfälle zur Folge. In Wahrheit ist jedoch das Gegenteil der Fall.
Ein weiteres Beispiel rankt sich um die Bildung. So kann man heute vielfach lesen, dass Kinder besser lernen, wenn sie dies ihrem jeweiligen Lerntyp gemäß tun. Davon gibt es angeblich vier, die wiederum in bestimmten Sinnesmodalitäten begründet liegen. Der visuelle Lerntyp präge sich in erster Linie Bilder und Grafiken ein. Der auditive Typ könne Gehörtes besonders gut verarbeiten. Für den motorischen Lerntyp sei es vorteilhaft, wenn er alle Handlungsabläufe selbst nachvollziehen kann, während der kommunikative Typ hauptsächlich von Gesprächen und Diskussionen profitiere. Das alles klingt nach Wissenschaft und ist doch nur ein Neuromythos. In keiner kontrollierten Studie seien die verschiedenen Lerntypen bisher bestätigt worden, sagt Beck. »Die Lernleistung hängt nicht im Geringsten davon ab, ob jemand Informationen nach seinem angeblichen Lieblings-Lernschema verarbeitet oder nicht.«
Denn unser Gehirn ähnelt nicht einer Computerfestplatte, die sich zunehmend mit Daten füllt und diese irgendwo separat ablegt. Neue Informationen werden vielmehr in die Architektur des Nervenzellennetzwerks integriert. Eine gespeicherte Information ist folglich identisch mit einem Aktivitätsmuster dieses Netzwerks, das gewöhnlich aus mehreren Sinneskanälen gleichzeitig gespeist wird. Das heißt, die Mischung verschiedener sinnlicher Anregungen macht Ler- nen erfolgreich, nicht der Versuch, sich auf einen Sinneskanal zu konzentrieren. Oder, um noch einmal Beck zu zitieren: »Lerntypen-Denken führt zu Lernmonokulturen, und die hat das Gehirn gar nicht gern.«
Man könnte nun annehmen, dass vor allem Laien solchen Neuromythen auf den Leim gehen. Doch stimmt das auch? Ein Forscherinnenteam um Kelly Macdonald von der University of Houston (USA) hat dazu jetzt eine Studie durchführt – in drei Gruppen. Die erste Gruppe wurde aus Personen gebildet, die bereits einen Kurs in Neurowissenschaften besucht hatten und so über entsprechende Vorkenntnisse auf diesem Gebiet verfügten. Sie seien hier als Experten bezeichnet. Die zweite Gruppe bestand aus Personen ohne neurowissenschaftliche Vorbildung, kurz Laien genannt, die dritte aus Pädagogen und Erziehern. Letztere wurden deshalb gesondert untersucht, weil sich mehrere der in der Studie berücksichtigten Neuromythen mit Themen wie Lernen und Bildung beschäftigen.
Dazu gehört die bereits erwähnte Aussage, dass es unterschiedliche Lerntypen gebe. Wie die Forscherinnen im Fachjournal »Frontiers in Psychology« (DOI: 10.3389/ fpsyg.2017.01314) berichten, stimmten dem 93 Prozent der Laien zu – so wie 78 Prozent der Experten und 76 Prozent der Pädagogen. Ein weiterer, in der Studie präsentierter Neuromythos besagt, dass viele Kinder mit Legasthenie Buchstaben verkehrt herum sähen. Das hielten 76 Prozent der Laien, 50 Prozent der Experten und 59 Prozent der Pädagogen für zutreffend.
Aus den Beispielen wird ersichtlich, dass Neuromythen ein beträchtliches pädagogisches Risiko bergen. So könnten etwa Lehrer, die bei einem Kind mit Legasthenie keine Buchstabenverdrehung feststellen, daraus den falschen Schluss ziehen, hier sei keine weitere Hilfe beim Lernen nötig. Und dass ein Unterricht nach Lerntyp leicht in eine Lernmonokultur münden kann, wurde bereits dargelegt. In der Praxis komme so etwas jedoch häufiger vor, als man denke, sagt Macdonald, die selbst längere Zeit als Lehrerin gearbeitet hat. »Während meiner Ausbildung bin ich vielen Lehrerinnen und Lehrern begegnet, die sich im Unterricht an Neuromythen orientierten.«
Nach den erhobenen Studiendaten nahmen Laien im Schnitt 68 Prozent der Neuromythen für bare Münze. 56 Prozent waren es bei den Pädagogen, 46 bei den Experten. Offenkundig tragen entsprechende wissenschaftliche Vorkenntnisse dazu bei, den Glauben an Neuromythen zu reduzieren. Gleichwohl kamen die 46 Prozent Zustimmung bei den Experten für die Forscherinnen überraschend. Sie seien aber insofern erklärbar, so Mitautorin Lauren McGrath, »als die akzeptierten Mythen sich auf Lern- und Verhaltensweisen bezogen und nicht auf das Gehirn, wo eine Ausbildung in Neurowissenschaft nachweislich hilfreich war«.
Damit sich künftig auch Lehrer und Erzieher aus neurowissenschaftlicher Sicht besser auf ihren Beruf vorbereiten können, wollen Macdonald und ihre Kolleginnen ein Online-Trainingsmodul entwickeln, das den Nutzern hilft, die gängigsten Neuromythen als solche zu erkennen. Zu diesen gehört der sogenannte Mozart-Effekt, über den US-Forscher erstmals 1993 in der renommierten Fachzeitschrift »Nature« berichteten. Im Experiment hatten sie zuvor festgestellt, dass Menschen, die in Vorbereitung auf einen IQ-Test zehn Minuten Musik von Wolfgang Amadeus Mozart zu hören bekamen, ein um acht bis zehn Punkte besseres Ergebnis erzielten als die Probanden einer Kontrollgruppe. Im US-Bundesstaat Florida legten Politiker daraufhin fest, dass in öffentlichen Kindergärten täglich eine Stunde Mozart gehört werden solle. An sich ist nichts dagegen einzuwenden, Kinder schon früh an klassische Musik heranzuführen. Nur: Der Mozart-Effekt konnte in nachfolgenden Studien nicht reproduziert werden und gilt heute als widerlegt.
Ein Neuromythos sei zum Schluss etwas ausführlicher behandelt. Denn er bietet gleichsam ein Paradebeispiel für die Entstehung einer wissenschaftlichen Legende. Dabei geht es um die Frage: Denken Frauen anders als Männer? Gewöhnlich heißt es, Männer hätten ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen (und könnten daher sicherer einparken), während Frauen besser kommunizierten. Begründet wird dies zumeist mit anatomischen Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Solche gibt es tatsächlich; sie zu leugnen wäre absurd. So haben Männer eine größere Amygdala, eine Struktur im limbischen System, die unter anderem mögliche Gefahrensituationen analysiert. Bei Frauen wiederum sind die Hirnhälften stärker vernetzt. Ihre Großhirnrinde ist dicker und mehr gefurcht als jene von Männern.
Werden dadurch auch die mentalen Prozesse unterschiedlich geprägt? Die Antwort lautet nein. Zwar schneiden Männer in räumlichen Tests besser ab als Frauen, zumindest im Labor und wenn vorher niemand solche Aufgaben geübt hat. Nach entsprechendem Training indes sind Frauen den Männern im räumlichen Denken durchaus ebenbürtig. Gleiches gilt, wenn man den Test in die reale Situation eines Wochenmarkts verlegt. Auch hier können sich laut einer Studie Frauen und Männer ähnlich gut orientieren. Allerdings aktivieren Frauen bei räumlichen Aufgaben teilweise andere Hirnregionen. Das heißt, sie folgen anderen Denkpfaden, doch diese führen normalerweise zum selben Ziel wie bei Männern.
Ganz und gar verfehlt ist der Versuch, das soziale Rollenverständnis der Geschlechter mit unterschiedlichen Hirnstrukturen zu begründen. Hier findet vielmehr ein Wechselspiel statt. »Die Funktion des Gehirns bedingt unser Verhalten«, erklärt Henning Beck. »Dadurch entstehen soziale Strukturen, die wieder auf das Gehirn zurückwirken. Das Gehirn ist so plastisch, dass es sich im Laufe der Zeit in diesen Strukturen besser zurechtfindet. Durch die ständige Rückkopplung zwischen Gehirn und Umwelt ist der Aufbau des Gehirns gleichzeitig Abbild der Umgebung und Grund für unser Verhalten.« Das klingt vielleicht etwas kompliziert. Beck hat es daher noch einmal griffiger formuliert: »Dass wir Männern und Frauen unterschiedliche Rollenbilder zuschreiben, wächst nicht auf dem Mist der neuronalen Verschaltungen, sondern entsteht durch soziale Interaktion.«
Dank moderner bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) ist die Zahl der Veröffentlichungen über die Funktionsweise des Gehirns in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Doch viele der als neu gepriesenen Erkenntnisse haben sich im Nachhinein als nicht haltbar erwiesen. Sie wurden deshalb der Kategorie Neuromythen zugeordnet.