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Herr im Haus

Bei der Besetzung der Berliner Volksbühne geht es um mehr als die neue Intendanz

- Von Christian Baron Weitere Informatio­nen: https://b6112.de/

Mit der Besetzung der Berliner Volksbühne wird die Kritik mal konkret.

Eine Erkenntnis ist oft nur so viel wert wie die Konsequenz­en, die man aus ihr zieht. In dieser Hinsicht machten die Gegner der neuen Leitung der Berliner Volksbühne bisher nicht die beste Figur. Zweieinhal­b Jahre lang fliegen nun schon verbal die Fetzen. Im Frühjahr 2015 hatte die SPD die Absetzung des heiß geliebten Intendante­n Frank Castorf durchgeset­zt und den Kulturbüro­kraten Chris Dercon als neuen Chef angekündig­t.

Seitdem wird auf Podien, am Kneipentis­ch, in Zeitungen und im Internet gestritten und verteidigt, gepöbelt und verspottet, getrauert und verschwurb­elt. Noch aber schlug niemand vor, was denn nun genau zu tun wäre. Das änderte sich am Freitag schlagarti­g. 100 Aktivisten und Künstler betraten am späten Nachmittag die Räume der Volksbühne, richteten sich mit Schlafsäck­en für einen längeren Aufenthalt ein, entrollten an der Außenfassa­de ein Banner mit der Aufschrift »Doch Kunst« und erklärten das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz für »besetzt«. Sie nennen ihre Aktion in Anspielung auf eine USamerikan­ische Atombombe »B 6112«.

Die Spielstätt­e, so sagte eine Sprecherin bei einer Pressekonf­erenz, soll ein »Anti-Gentrifizi­erungszent­rum« werden. Dafür wollen die Aktivisten einen Alternativ­spielplan entwickeln und die Volksbühne zu einem »Theater für alle« machen. 48 Menschen seien seit Monaten an der Planung der Aktion beteiligt gewesen. Sie wollen nicht namentlich auftreten. Bestätigt haben Beteiligte aber, dass Studenten der Berliner Beuth-Hochschule für Technik ebenso dabei sind, wie Hendrik Sodenkamp, der als Assistent des langjährig­en Volksbühne­nChefdrama­turgen Carl Hegemann arbeitete.

Nachdem die Gruppe die Anwesenden mit all diesen Informatio­nen versorgt hatte, verzog sie sich in den Roten Salon zu einer 60-StundenPar­ty. Dort musste wegen des Andrangs in der Nacht zum Sonntag ein Einlasssto­pp verhängt werden. Kultursena­tor Klaus Lederer (Linksparte­i) konnte aber noch vorbeischa­uen. Die Personalie des Volksbühne­n-Intendante­n musste er von seinem Amtsvorgän­ger Tim Renner (SPD) übernehmen. Lederer lässt keine Gelegenhei­t aus, um öffentlich gegen seinen Angestellt­en Dercon zu stänkern.

Offenbar hat er zugleich Angst vor dem Koalitions­partner SPD, denn er verurteilt­e über Facebook die Besetzung mit einem ungelenken Sampling eines Satzes von Rosa Luxemburg: »Kunstfreih­eit ist immer auch die Kunstfreih­eit der Andersperf­ormenden.« Ein Problem, das der wütende Politiker übersehen zu haben scheint: Wären die Aktivisten nicht dort, dann würde in der Volksbühne derzeit niemand »performen«. Die ersten Veranstalt­ungen der DerconLeut­e sind erst für November angesetzt.

Die Hausherren ließen ihren Pressemann Johannes Ehmann am Samstag mitteilen, man habe mit den Besetzern ergebnislo­s verhandelt. Von einer polizeilic­hen Räumung ist noch nicht die Rede. Allerdings sei aktuell der Probenbetr­ieb gefährdet. Auch von Programmdi­rektorin Marietta Piekenbroc­k ist ein Satz überliefer­t. Sie giftete via »FAZ« auf dem Weg zu einer Theaterpre­miere in Graz, die Aktivisten wollten »unbedingt hässliche Bilder produziere­n«.

Dabei geht es den Besetzern nicht in erster Linie um Dercon oder Piekenbroc­k. Aus ihrer Sicht ist der Wandel an Berlins umkämpftem Theater ein prominente­s Symptom für den politische­n Weg, den diese Stadt eingeschla­gen hat. Kann heute irgendwer die Volksbühne­ndebatte noch als Nischenthe­ma abtun? Der neue Boss und sein Gefolge befinden sich seit September im Amt. Bisher erfüllen sie von der Vernebelun­g des Programms bis zur Brutalisie­rung der Arbeitsbed­ingungen alle Befürchtun­gen (»nd« berichtete).

Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) und Renner hätten Chris Dercon die Leitung beinahe jedes anderen Theaters dieser Stadt anvertraue­n können. Er wäre von der Schauspiel­szene belächelt und von der Tanzszene mit Kusshand empfangen worden. Die Volksbühne aber wurde zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts als proletaris­ches The-

Denn mit der Volksbühne haben die sprechende­n Aktenordne­r nicht nur einen ursprüngli­ch proletaris­chen Ort gekapert. Nein, sie haben sich auch ein Theater gekrallt, das gerade jenen ästhetisch überlebens­wichtig erscheint, die bislang noch nicht der Stadtvergo­ldung zum Opfer gefallen sind.

ater mit Arbeitergr­oschen errichtet. Zwar zieht es seit Jahren kaum mehr Menschen ohne Universitä­tsabschlus­s an. Es blieb jedoch eine Oase des Widerständ­igen. Das klingt altbacken und pathetisch – aber es stimmt. Dass dort jetzt ein Manager das Zepter schwingt, der mit einer künstleris­chen Nonsensage­nda die schwelende­n Konflikte dieser Gesellscha­ft in Wohlgefall­en auflösen will, kommt für Kritiker der Stadtentwi­cklung genau zur richtigen Zeit.

Denn mit der Volksbühne haben die sprechende­n Aktenordne­r nicht nur einen ursprüngli­ch proletaris­chen Ort gekapert. Nein, sie haben sich auch ein Theater gekrallt, das gerade jenen ästhetisch überlebens­wichtig erscheint, die bislang noch nicht der Stadtvergo­ldung zum Opfer gefallen sind. Für die Aktivisten ist das eine Chance, ihre seit Jahren wiederholt­en Warnungen und Forderunge­n endlich einmal an die große Hochkultur­glocke zu hängen.

All die sogenannte­n einfachen Leute, die im Zeitalter der Industrial­isierung vom Land in die Städte geprügelt wurden, müssen sich in einem schleichen­den Prozess des Mietpreisk­letterns von den Wohlhabend­en gewaltsam wieder aus den Metropolen vertreiben lassen. Innerhalb der Stadt gibt es immer weniger Räume, in denen sich jenes bunte Gemeinwese­n noch entfalten kann, das Berlin überhaupt erst so attraktiv gemacht hat.

Fast alle großen Medien kommentier­ten die Aktion am Wochenende. Im »Tagesspieg­el«, der sich zum Sturmgesch­ütz der Dercon-Fans entwickelt hat, schimpfte Hannes Soltau auf »provinzial­istische Gentrifizi­erungsgegn­er«. Simon Strauß mutmaßte in der »FAZ«: »Die Inneneinri­chtung soll zerstört worden sein.« Und bei »Spiegel Online« rief Hannah Pilarczyk zur Entspannun­g auf. Letztlich sei das doch nur ein Happening gelangweil­ter Junggroßst­ädter. Dafür sprächen auch das geringe Polizeiauf­kommen und die Ruhe der Beamten.

Ob die Aktivisten nun bereits nach wenigen Tagen das Haus wieder räumen mögen oder ob sie mehrere Wochen bleiben: Ihnen ist gelungen, wozu momentan weder die Linksparte­i noch der Politaktiv­ismus fähig sind. Mit einer aufwendig organisier­ten, vom Grundgedan­ken her aber einfachen Kunstaktio­n haben sie es geschafft, die Kritik an einer Stadtentwi­cklung zu bündeln, die bisher nur realpoliti­sch zerstückel­t in Einzelthem­endebatten vorkam.

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Foto: Bjoern Kietzmann

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