»Es wird Krieg um Kirkuk geben«
Hochschullehrer Mohammed Al-Qissi sieht die Lage um Kurdistan pessimistisch
Beobachter erwarten, dass sich eine große Mehrheit Kurdistans für die Unabhängigkeit ausspricht. Sämtliche Nachbarstaaten wollen das Ergebnis jedoch nicht anerkennen. Wie soll es nach dem Referendum weitergehen?
Ich fürchte mich vor dem, was kommt. Meine Familie stammt aus Mossul, ich habe im Krieg gegen den IS meine Mutter verloren und denke, dass es nach der Abstimmung zu neuen Auseinandersetzungen kommt. Diesmal jedoch angeführt von der Miliz AlHashd Al-Sha'abi. Es wird Krieg um Kirkuk geben.
Warum ist Kirkuk von solcher Bedeutung?
Kirkuk ist das Zentrum der irakischen Ölindustrie. Sowohl Kurdistan als auch die Zentralregierung beanspruchen die Region für sich. Im Zuge der Kämpfe gegen den IS haben die kurdischen Streitkräfte die Stadt eingenommen. Jetzt ist Kirkuk am Referendum beteiligt und soll Teil des neuen Staats werden. Das wird Bagdad verhindern wollen. Vor wenigen Tagen hat das irakische Parlament deshalb den Gouverneur entmachtet. Er hatte das Referendum in Kirkuk ermöglicht. Gleichzeitig hat Premierminister Haider al-Abadi bereits militärische Operationen angekündigt, falls das Referendum in Gewalt münden wird.
Wer steckt hinter Al-Hashd AlSha'abi?
Al-Hashd Al-Sha'abi ist eine irakische paramilitärische Organisation. Diese sogenannte Volksmobilisierungskraft wurde im Kampf gegen den IS von Ayatollah Ali al-Sistani ausgerufen und ist deutlich stärker als das irakische Militär. Ich rechne damit, dass es nach dem Referendum zu kriegerischen Konflikten zwischen ihr und der Peschmerga kommen wird.
Kirkuk wird oft als das »Jerusalem der Kurden« bezeichnet und ist für seine Vielfalt bekannt. Wie will Massud Barsani die unterschiedlichen Ethnien in einem Staat vereinen?
Die Lage in Kirkuk ist schwierig. Araber und Turkmenen machen jeweils ungefähr 14 Prozent der dortigen Bevölkerung aus. Die acht turkmenischen Parteien stehen unter dem Einfluss der Türkei. Genauso wie die arabischen Parteien, die sich stark am ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki orientieren, haben sie sich gegen das Referendum ausgesprochen. Diese Konflikte zu lösen, dürfte eine Mammutaufgabe werden.
Auch innerhalb Kurdistans scheint es keine Einheit zu geben. Kürzlich hat die größte Oppositionspartei die Parlamentssitzung zum Referendum boykottiert.
Die Konflikte innerhalb des autonomen Kurdistan sind groß. Gorran, die »Liste für den Wandel«, wurde 2009 gegründet, um der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans etwas entgegenzusetzen. Bei den Wahlen 2015 wurde sie zweitstärkste Kraft. Mit Medienmogul Haswar Abdulwahid war sie für eine Verschiebung des Referendums. Sie ist die Gegenspielerin Barsanis, beklagt Korruption, Demokratiedefizite und hält es für falsch, jetzt die Unabhängigkeit auszurufen.
Aber Präsident Barsani hat doch Verhandlungen mit Bagdad für nach dem Referendum angekündigt? Das Verhältnis zwischen Bagdad und Erbil, der Autonomiehauptstadt, ist denkbar schlecht. Im 114. Artikel der 2005 verabschiedeten Verfassung wurde den Kurden zwar eine gemeinsame Verwaltung der umstrittenen Gebiete versprochen. Es herrscht aber Misstrauen. Die Konsequenz ist, dass das ohnehin schon wirtschaftlich notleidende Kurdistan seine Unabhängigkeit anstrebt. Ich bin Iraker, habe in Bagdad meine Dissertation verfasst und lehre seit fünf Jahren an der Universität in Kurdistan. Der Blick in die Zukunft bereitet mir Sorgen. 2018 sind Präsidentschaftswahlen in Irak geplant. Keiner der Akteure dort kann sich im Wahlkampf die Entstehung eines Kurdenstaats leisten. Auch deshalb glaube ich, dass kriegerische Auseinandersetzungen nach dem Referendum realistischer sind als friedliche Verhandlungen.
Dr. Mohammed Al-Qissi ist Politikwissenschaftler an der ersten privaten arabischen Hochschule in der irakischen Autonomieregion Kurdistan. Dort sprach für »nd« mit ihm David Gutensohn. Foto: David Gutensohn