In Mexiko schwindet die Hoffnung
Neues Erdbeben erschwert die Suche in den Trümmerhaufen / Seit Freitag keine Überlebenden mehr geborgen
In Mexiko hat ein neues Beben für Panik und eine Zwangspause bei den Sucharbeiten gesorgt. Fünf Tage nach dem verheerenden Erdbeben schwindet die Hoffnung, noch weitere Überlebende zu finden. Neuer Schock für die Menschen in Mexiko: Ein Erdbeben der Stärke 6,1 hat wenige Tage nach dem Beben mit über 300 Toten das Land am Samstag erneut erschüttert. Das Zentrum lag im Süden des Landes im Bundesstaat Oaxaca, teilte das Seismologische Institut mit.
Dabei ist nicht nur bei den 50 Familien im nachbarschaftlichen Wohnkomplex mit der Nummer 98 in der Straße Puccini das Grauen durch das verheerende Erdbeben vom 19. September noch vollkommen präsent. Das Gebäude liegt im nördlichen und ärmeren Viertel Vallejo. Die Menschen hier kennen zwar solche Momente nur zu gut, an dem Schrecken ändert das nichts. Sie alle haben während des Bebens vor 32 Jahren ihr Zuhause verloren. Das Trauma sitzt tief. Mit Spendengeldern des deutschen und schweizerischen Roten Kreuzes konnte vor drei Jahrzehnten das Viertel wieder aufgebaut werden.
Am 19. September fielen in Vallejo Strom und alle digitalen Kommunikationswege aus. Mancherorts bis zum nächsten Tag. An jenem Schreckenstag zittern vielen Menschen noch 20 Minuten nach dem Beben die Beine. Viele Gesichter sind angsterfüllt. In diesem Bereich der Stadt ist zwar niemand zu Schaden gekommen, doch die Ungewissheit über das Schicksal von Angehörigen und Freunden nagt erbarmungslos: »Die Viertel Tlalpan und Xochimilco im Süden wurden schwer getroffen hieß es gerade im Radio.« »Mein Neffe arbeitet am Fußballstadium Azteca, das zum Teil eingestürzt ist. Ich erreiche ihn nicht.« Nicht alle Nachrichten, die anfangs über Radio vermittelt werden, erweisen sich als wahr. Es herrscht ein Informationschaos.
In den Stunden und Tagen danach ist es vor allem ein Akteur, der wie vor 32 Jahren zum Leben erwacht und Schlimmeres verhindert: Die unorganisierte Zivilgesellschaft verwandelt sich in ein sich koordinierendes Kollektiv. Es klingt plakativ, doch sind es normale Leute, Arbeitende, Angestellte, ungemein viele Studierende und junge Leute, die mit Mundschutz, Handschuhen und Stiefeln ausgerüstet erste Rettungsarbeiten leisten und Brigaden bilden. Die aus ihrem eigenen Geldbeutel Medikamente, Wasser, Essen, Benzin, Lampen kaufen. Und es sind Bundespolizisten sowie Soldaten der Armee und der Marine, die statt Schaufeln schwere Waffen in den Händen halten und zum Teil die Anstrengungen behindern, die in den ersten Stunden lebensrettend sein können. Eine zentrale Informationsstelle der Regierung bleibt auch Tage danach aus; dies übernehmen stattdessen Menschen wie Ángel González, 29 Jahre alt, der aufgrund einer körperlichen Einschränkung nicht direkt bei den Bergungsarbeiten beteiligt sein kann: »Also habe ich mich hingesetzt zum Organisieren und Koordinieren. Ich habe die Orte, an denen es zu Einstürzen kam, überprüft und dann die Information über Twitter und Facebook verbreitet.«
In der Straße Chimalpopoca im Stadtteil Oberera (Arbeiterin) ist eine Textilfabrik eingestürzt und hat Näherinnen unter sich begraben, viele von ihnen Migrantinnen aus China und Mittelamerika. An dieser Stelle wiederholt sich Geschichte: Auch vor 32 Jahren brachen mehrere Textilfabriken zusammen, viele davon illegale Betriebe. Ein Massengrab für über 1000 Arbeiterinnen. Beim bisher verheerendsten Beben 1985 ebenfalls an einem 19. September ließen inoffiziellen Schätzungen zufolge über 20 000 Mexikaner ihr Leben.
Am 19. September 2017 half José Luis Garcia Hernández bis zum nächsten Tag um drei Uhr früh bei den Rettungsarbeiten: »Es kam jemand von der Armee und sagte uns, dass demnächst 100 Soldaten kommen zum Helfen. Es ist nie jemand gekommen. Die Bundespolizei kam, aber sie haben nur den Zugang behindert. Die Leute haben zu einem Polizisten gesagt ›Los, pack mit an, den Schutt wegzuräumen!‹, aber dieser antwortete nur ›Wir haben Befehl, niemanden durchzulassen.‹« Am Morgen nach dem Unglück haben Polizei und Militär die Zone umstellt und abgesichert. Doch es sind fast nur Zivilisten, die den Schutt wegräumen und sich auf den Trümmern der Unglücksstelle Sandra Sofía Sánchez
befinden. Plötzlich recken sich mehrere ausgestreckte Arme mit geballten Fäusten in die Luft. Stille tritt ein. Ein Krankenwagen mit Blaulicht bahnt sich den Weg. Eine verschüttete Person konnte just lebend geborgen werden. Bewegende Augenblicke, in denen alle allen nahe sind.
An einer anderen Stelle, zwischen den Vierteln Amores und Viaducto, wurden zwar Bagger von der Regierung geschickt, diese hatten jedoch nach kurzer Zeit kein Benzin mehr. »Außerdem haben sie uns um Lampen gebeten«, berichtet Sandra Sofía Sánchez Calderón. Für die 25-Jährige ist die Situation eindeutig: »Die Regierenden haben sich niemals um ihre Gesellschaft gesorgt.«
Auch eingestürzte Neubauten tauchen in den Listen auf und verdeutlichen einmal mehr, dass nach 1985 nicht überall die verstärkten Sicherheitsstandards eingehalten wurden. Lasche Kontrollen und korrupte Regierungsstrukturen tragen eine Mitschuld an den Ausmaßen.
Vor der Textilfabrik trafen kontroverse Haltungen aufeinander: Während der Besitzer und offizielle Stellen den Einsatz von schwerem Gerät befürworteten und vorantrieben, vermuteten Helfende, allen voran eine feministische Brigade, noch Überlebende unter den Trümmern. Die Eile interpretierten sie als Sorge um Material und Produktionsmittel. Alles keine Einmaligkeit, sondern eine er- neute Wiederholung von 1985. Im Morgengrauen auf Samstag wurden alle Arbeiten beendet. Keine weitere Arbeiterin wurde entdeckt. Stattdessen erfolgte ein neues Erdbeben, um 7.53 Uhr Ortszeit mit einer Stärke von 6.1 auf der Richterskala im südlichen Bundesstaat Oaxaca, woraufhin in Mexiko-Stadt zwei Frauen einem Herzinfarkt erlagen. Neue physische Schäden blieben dort jedoch aus.
Auf Drängen der Angehörigen von Vermissten setzten die Bergungskräfte in Mexiko-Stadt auch am Sonntag ihre Suche fort, seit Freitag bargen sie jedoch nur noch Leichen. Die Zahl der Todesopfer stieg auf 307, neben Mexiko-Stadt hat das Beben auch in den Bundesstaaten Puebla, Morelos, Guerrero und Estado de México Tote gefordert.
Unterdessen begannen die ersten Trauerfeiern für die Todesopfer. Zu den ersten Opfern, die bestattet wurden, zählten Gabriel Morales und Agueda Mendoza. Bergungskräfte hatten das Ehepaar in enger Umarmung unter den Trümmern gefunden, gemeinsam mit ihrem Hund Quino.
»Die Regierenden haben sich niemals um ihre Gesellschaft gesorgt.«