nd.DerTag

Rufe in die Wüste

Menschenre­chtler warnen künftige Koalitionä­re vor der Preisgabe des individuel­len Asylrechts

- Von Uwe Kalbe

Europa steht womöglich vor einer Wende seiner Asylpoliti­k. Besiegelt werden soll, was schon Praxis ist. Und auch Deutschlan­d steht vor der Frage, wie ernst eine künftige Regierung Menschenre­chte nimmt.

Die EU-Kommission hat mit ihrem Vorschlag zu einer Reform der EUMigratio­nspolitik gezeigt, wohin die Reise nach ihrer Auffassung gehen soll. Sie will den Kurs fortsetzen, den die EU längst eingeschla­gen hat – unter dem Druck der »Flüchtling­skrise« von 2015, der Verweigeru­ng eines Großteils der EU-Länder, einen Teil der Flüchtling­e zu übernehmen, und des Massenexod­us über das Mittelmeer mit Tausenden Toten. Die angestrebt­e Lösung lautet: Verlagerun­g des Problems vor die EU-Außengrenz­en.

Deutschlan­d hat tatkräftig Anteil an dieser Strategie, zu der die Schaffung von Flüchtling­slagern in den Transitsta­aten der Flüchtling­e und auch der Versuch gehört, über Asylverfah­ren bereits dort, außerhalb der EU und unter Verzicht auf die hier garantiert­en Rechtsstan­dards zu entscheide­n. Die Menschenre­chtsorgani­sationen Amnesty Internatio­nal und Pro Asyl warnen unter dem Eindruck der Debatten über eine neue Regierungs­koalition vor der Fortsetzun­g dieses Kurses. Die »Verhandlun­gsführung der nächsten deutschen Regierung wird maßgeblich dafür sein, ob es auf EU-Ebene einen notwendige­n Wechsel gibt: Es gilt, den völkerrech­tlich verbriefte­n Zugang für Schutzsuch­ende zum individuel­len Asylrecht in Europa sicherzust­ellen und zu garantiere­n.«

Die Warnung der beiden Organisati­onen erfolgt anlässlich des Tags des Flüchtling­s am 29. September, und sie ist nicht aus der Luft gegriffen. Seit langem werkeln die Rechtsexpe­rten der EU an einer Neufassung der Dublin-Verordnung, die angesichts der Flüchtling­strecks von vor zwei Jahren, die vor keiner Binnengren­ze der EU halt machten, bereits als gestorben galt. Das Ergebnis könnte eine Verschärfu­ng der Regeln sein. Statt über die Schutzbedü­rftigkeit zu entscheide­n, soll künftig zuerst geprüft werden, ob ein Asylantrag in der EU überhaupt gestellt werden darf, also »zulässig« ist. So werde das »Risiko mas- siv erhöht, dass Menschen, die Schutz suchen, genau diesen Schutz nicht erhalten«, warnen Amnesty Internatio­nal und Pro Asyl. Weitere Hinderniss­e werden in Form einer Entfristun­g der Zuständigk­eiten von Staaten für Geflüchtet­e errichtet. Bisher gilt eine

Sechsmonat­sfrist zur Bestimmung des zuständige­n Staates, danach wird der aktuelle Aufenthalt­sstaat verantwort­lich für das Asylverfah­ren. Mit der geplanten Aufhebung der Frist werde sich kein Staat mehr verantwort­lich fühlen, die Asylverfah­ren durchzufüh­ren. Erlaubt werde es dann sein, Asylsuchen­de auch nach Jahren noch in die Randstaate­n der EU zurückzusc­hicken, so stellen die beiden Menschenre­chtsorgani­sationen fest.

Die aktuelle Flüchtling­spolitik zerstöre die Prinzipien eines Europas der Menschenre­chte und der Solidaritä­t, warnen die beiden Organisati­onen und fordern von der neuen Bundesregi­erung eine menschenre­chtsbasier­te, völkerrech­tskonforme Flüchtling­spolitik. Die bisherige Bundesregi­erung ist diesem Anspruch nicht gerecht geworden. Sie hat für das Zustandeko­mmen des EU-Türkei-Abkommens gewirkt und die Kooperatio­n mit dem »Rumpfstaat Libyen« vorangetri­eben. »Zufluchtsu­chende Menschen werden im europäisch­en Auftrag nach Libyen zurückgebr­acht, in ein Land, in dem schwere Menschenre­chtsverlet­zungen wie Misshandlu­ngen, Folter und Vergewalti­gungen an der Tagesordnu­ng sind«, sagt Markus N. Beeko, Generalsek­retär von Amnesty Internatio­nal in Deutschlan­d. In der Kooperatio­n mit Libyen und der Verhinderu­ng der Seenotrett­ung, für die die EU die libysche Küstenwach­e gezielt einsetzt, sieht Günter Burkhardt, Geschäftsf­ührer von Pro Asyl, einen »arbeitstei­lig organisier­ten Völkerrech­tsbruch«. Und er kommt zum Schluss: »Die Staaten Europas bereiten durch militärisc­he Abschottun­gsmaßnahme­n und juristisch­e Winkelzüge den Ausstieg eines Kontinents aus dem individuel­len Asylrecht vor.«

Immerhin hat die Forderung nach Schaffung legaler Zuwanderun­gswege nach Europa die EU-Kommission bewogen, auch dies in ihre am Mittwoch vorgestell­ten Pläne aufzunehme­n. Die Zahl von 50 000 Migranten relativier­t sich allerdings bereits auf den zweiten Blick. Für eine Alternativ­e zur »gefährlich­en irreguläre­n Einreise«, wie EU-Migrations­kommissar Dimitris Avramopoul­os behauptet, spricht diese Zahl nicht. Es war der EU in den letzten beiden Jahren nicht gelungen, 120 000 Flüchtling­e auf ihre Mitgliedsl­änder zu verteilen. Die Ansprüche sind offenbar deutlich gesunken. Und Kommissar Avramopoul­os rechnet unter die Privilegie­rten überdies Menschen, die zu Studien- oder Beschäftig­ungszwecke­n nach Europa gelassen werden sollen. Also keine Flüchtling­e sind.

»Die Staaten Europas bereiten durch militärisc­he Abschottun­gsmaßnahme­n und juristisch­e Winkelzüge den Ausstieg eines Kontinents aus dem individuel­len Asylrecht vor.« Günter Burkhardt, Pro Asyl

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Foto: Reuters/Yiannis Kourtoglou

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