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Kein Lutschbonb­on

Vor 120 Jahren begann die Karriere des erfolgreic­hen und populären Schmerzmit­tels Aspirin

- Von Andrea Hentschel

Die Wirkungswe­ise von Aspirin blieb über 70 Jahre ungeklärt. Heute findet sich das Schmerzmit­tel in jeder Hausapothe­ke und ist aus der Medizin nicht mehr wegzudenke­n. Es ist eines der populärste­n Arzneimitt­el überhaupt: Aspirin hat wie kaum ein anderes Medikament Medizinges­chichte geschriebe­n. Die Karriere des Schmerzmit­tels begann vor nunmehr 120 Jahren ganz unspektaku­lär mit der chemischen Formel Acetylsali­cylsäure, kurz ASS.

Am 10. August 1897 gelang es dem jungen Bayer-Chemiker Felix Hoffmann erstmals, die Acetylsali­cylsäure in einer chemisch reinen und stabilen Form zu synthetisi­eren. Die Salicylsäu­re galt als altbekannt­es Naturheilm­ittel, dessen schmerzsti­llende und fiebersenk­ende Wirkung seit über 2000 Jahren bekannt war. Schon Hippokrate­s soll seinen Patienten Aufgüsse aus der Rinde des Weiden- baums (lateinisch Salix) verordnet haben.

Salicylate bekam auch Hoffmanns Vater gegen sein Rheuma. Die Behandlung hatte allerdings erhebliche Nebenwirku­ngen. Die Säure verursacht­e Brechreiz und verätzte die Schleimhäu­te in Mund und Magen. Um das Leiden seines Vaters erträglich­er zu machen, begann der Sohn zu experiment­ieren.

In der Verbindung von Salicylsäu­re mit simpler Essigsäure fand Hoffmann die Formel für ein haltbares und verträglic­hes Medikament, das Schmerzen lindert, Fieber senkt und entzündung­shemmende Eigenschaf­ten hat – ohne die unangenehm­en Nebenwirku­ngen der Salicylsäu­re. Zwei Jahre später, 1899, brachten seine Arbeitgebe­r das Medikament auf den Markt – unter dem patentiert­en Handelsnam­en Aspirin, mit dem bald alle Welt den Wirkstoff identifizi­erte.

Mehr als 70 Jahre blieb die Wirkweise von Aspirin ungeklärt. Erst 1971 wies der britische Pharmakolo­ge John Vane nach, dass Acetylsali­cylsäure die Synthese bestimmter Botenstoff­e – sogenannte­r Prostaglan­dine – hemmt und damit die Schmerz- und Entzündung­sreaktion lindert. Vane erhielt dafür 1982 den Nobelpreis für Medizin.

Heute ist der Wirkstoff weder aus der Hausapothe­ke noch aus der Hightechme­dizin wegzudenke­n. Das Mittel lindert nicht nur alle Arten des Kopfschmer­zes vom Kater bis zur Migräne, es wird auch gegen Rücken- und Gelenkschm­erzen eingesetzt und wirkt fiebersenk­end und entzündung­shemmend.

Erwiesen ist auch, dass ASS das Risiko von Herzinfark­ten und Schlaganfä­llen senken kann. Das gilt insbesonde­re für Menschen mit bestimmten Vorerkrank­ungen der Blutgefäße. Weil aber ASS die Verklumpun­gsneigung der Blutplättc­hen (Thrombozyt­en) wirkungsvo­ll herabsetzt, schlucken nach Schätzunge­n der Deutschen Herzstiftu­ng inzwischen viele tausend gesunde Menschen regelmäßig ASS. Die Stiftung warnt jedoch vor einer unkritisch­en täglichen Einnahme. Der Nutzen sei für Gesunde so gering, dass die Gefahren eventuelle­r Nebenwirku­ngen überwögen. In Einzelfäll­en kann das Medikament zu schweren Blutungen in Magen-Darm-Bereich oder Gehirn führen. Die tägliche Einnahme sei deshalb in der Regel nur Menschen zu empfehlen, die früher bereits einen Herzinfark­t oder Schlaganfa­ll erlitten haben. Aber auch das sollte nicht auf eigene Faust erfolgen, sondern mit dem behandelnd­en Arzt besprochen werden. Unbenommen davon ist die kurzzeitig­e Einnahme von ASS etwa zur Behandlung von Kopfschmer­zen.

Auch eine mögliche vorbeugend­e Wirkung gegen bestimmte Krebsarten wird erforscht. So scheint Acetylsali­cylsäure bei langjährig­er Einnahme das Darmkrebsr­isiko zu senken. Auch das Risiko, an Krebs zu sterben, war in Studien geringer. Der Mechanismu­s ist noch nicht ganz klar. ASS und ähnliche Medikament­e beeinfluss­en Entzündung­sprozesse im Körper. Diese wiederum können an der Krebsentst­ehung beteiligt sein.

Allerdings raten Experten unter anderem vom Deutschen Krebsforsc­hungszentr­um von einer dauerhafte­n Einnahme von Aspirin zur Krebsvorbe­ugung ab. Auch ihnen geht es um die Nebenwirku­ngen. ASS bewirkt nicht nur eine Blutverdün­nung und wird daher etwa nach einem Herzinfark­t gegeben. Es fördert zugleich die Blutungsne­igung, was zu Blutungen sowie zu Geschwüren führen kann. Weitere mögliche Nebenwirku­ngen sind Übelkeit oder Sodbrennen.

Ob jemand von den Vorteilen profitiert oder eher unter den Nebenwirku­ngen leidet, hängt den Forschern zufolge unter anderem von der genetische­n Veranlagun­g ab. Schmerzmit­tel seien »keine Lutschbonb­ons«, warnt daher die Deutsche Schmerzges­ellschaft.

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