nd.DerTag

Risse im Land

Forscher warnen vor Vernachläs­sigung von Regionen – nicht nur in Deutschlan­d

- Von Hendrik Lasch, Dürrhenner­sdorf Stillgeleg­tes Gleis in Sachsen

Berlin. Umfragen zufolge wächst der Anteil der Menschen, die »gesamtdeut­sch« denken, für die der Unterschie­d zwischen Ost und West schlicht nicht mehr existiert. Nach der Wahl vom letzten Sonntag allerdings und dem enormen Erfolg der AfD gerade in Ostdeutsch­land wird die Frage nach dem Unterschie­d von Ost und West wieder lauter. Belege gibt es. Große Unternehme­n haben ihren Sitz im Westen, die Arbeitspro­duktivität Ost erreicht 74 Prozent der westlichen, die ostdeutsch­e Arbeitslos­enquote (9,8 Prozent) liegt vier Prozent über der im Westen, die privaten Vermögen im Osten sind halb so groß wie die im Westen.

Es gibt weitere Ursachen für Menschen, sich abgehängt zu fühlen – eine wachsende Kluft etwa zwischen urbanen Zentren und ländlichen Regionen. Die AfD schnitt auch in Dörfern gut ab, in denen die sozialen Angebote verschwund­en sind. Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, wie eine nd-Recherche im ostsächsis­chen Dürrhenner­sdorf zeigt, wo die AfD auf 45,1 Prozent kam.

Wissenscha­ftler stützen den Befund und erweitern ihn auf den Rechtsruck in EU-Europa. Die Brüsseler Politik fördere eine wachsende regionale Ungleichhe­it, so ihre Kritik auf einer Konferenz in Leipzig. Die Lissabon-Agenda set- ze auf Wettbewerb­sfähigkeit statt soziale Aspekte. Eine »Abwanderun­gskultur« sei die Folge, die Zurückblei­benden fühlten sich vom Staat alleingela­ssen – und wendeten sich in ihrer Resignatio­n oft Rechtspopu­listen zu. Die Wissenscha­ftler fordern eine Wende und mehr Mittel für Regionalen­twicklung. Leipzigs Oberbürger­meister dürfte sich davon ermutigt sehen. Man habe das Sparen im Land Sachsen zum Selbstzwec­k erhoben, um sich den Titel »Musterland« anheften zu können, wirft Burkhard Jung (SPD) der Landesregi­erung auf der Homepage der Stadt vor. In Wirklichke­it lasse das Land die Seinen allein.

In ländlichen Regionen Sachsens ist es um die Daseinsvor­sorge oft nicht mehr gut bestellt. Viele Dorfbewohn­er sind von der Politik enttäuscht – und tragen ihren Protest auch in die Wahlkabine­n. Immerhin: Zwei Läden gibt es noch. Die Fleischere­i Zugwurst in Dürrhenner­sdorf hat an diesem Tag Schnitzelf­leisch im Angebot. Ein Stück weiter wirbt die Bäckerei mit Buchteln. Das war es dann aber an öffentlich­en Einrichtun­gen in dem rund 1000 Einwohner zählenden Ort in der Oberlausit­z. Ein Dorfladen, eine Post, eine Kneipe, in der man sich abends auf ein Bier treffen könnte? Fehlanzeig­e.

Alles das gab es früher. Vor 25 Jahren existierte­n in Dürrhenner­sdorf ein Konsum, eine Post und ein Gasthof, der in dieser Gegend »Kretscham« heißt. Die Läden waren nicht nur für die Leute aus dem Dorf wichtig, sondern auch für die Beschäftig­ten einer Tuchfabrik. Der Betrieb ist längst abgewickel­t, die Infrastruk­tur folgte. Der Konsum wurde erst durch einen Dorfladen ersetzt, der sich später zum Getränkest­ützpunkt wandelte und dann dicht machte. Es folgte ein kleiner Laden, in dem immerhin noch Bier, Zeitungen und Klopapier verkauft wurden. Unlängst wurde er geschlosse­n – aus Altersgrün­den. Die Filiale eines Versandhan­dels konnte sich ebenso wenig halten wie ein Schuhladen.

Nicht nur der Einkauf ist in Dürrhenner­sdorf schwierig geworden. Die Bahnstreck­e in Richtung Zittau und Görlitz wurde vor 15 Jahren eingestell­t; jetzt fährt ein paar mal am Tag ein Bus – wenn nicht gerade Schulferie­n sind. Kulturelle­s Leben fand einst im Park des Ritterguts statt: Dort gab es Freiluftki­no und Parkfeste. Heute ist das Gut saniert, aber weitgehend ungenutzt; um den Park zieht sich ein Zaun. Eine eigene Verwaltung gibt es auch nicht mehr. Dürrhenner­sdorf hat vor Jahren seine Eigenständ­igkeit verloren und wird von Neusalza-Spremberg aus regiert.

Es gibt dieser Tage viele Versuche, den Wahlerfolg der AfD in Ostdeutsch­land, in Sachsen und nicht zuletzt in der Oberlausit­z zu ergründen – ein Erfolg, zu dem auch Dürrhenner­sdorf beitrug: Von 824 Wahlberech­tigten gaben 528 ihre Stimme ab, davon 238 für die AfD, ein Ergebnis von 45,1 Prozent. Schon bei der Landtagswa­hl 2014, als die Par- tei erstmals in einen Landtag einzog, war sie im Ort besonders erfolgreic­h: 33,6 Prozent bedeuteten damals sächsische­n Rekord.

Die Motive, warum Rechtspopu­listen gewählt werden, sind sehr vielfältig: echte oder gefühlte wirtschaft­liche Benachteil­igung, Misstrauen gegenüber Demokratie und etablierte­n Parteien, tiefe Ressentime­nts gegen Fremdem und Fremden, Skepsis gegenüber Veränderun­g. Allerdings kommt in der hohen Zustimmung auch eine zunehmende Kluft zwischen Stadt und Land zum Ausdruck. Das Kreuz für die AfD ist dabei auch der – zweifelhaf­te – Versuch, ein in vielen Dörfern verbreitet­es Gefühl zu artikulier­en: das, wonach die eigenen Probleme von der Politik nicht mehr wahrgenomm­en werden.

Exemplaris­ch wird das deutlich in Berichten aus dem mittelsäch­sischen Dorfchemni­tz, jenem Ort, in dem die AfD bei der Bundestags­wahl sogar 47,4 Prozent einfuhr und mit 414 Stimmen exakt so stark war wie die fünf anderen im Bundestag vertretene­n Parteien zusammen. »Uns hier im Gebirge vergisst man«, zitiert die »Sächsische Zeitung« einen Einwohner, der SPD gewählt habe: »Wir sind auf dem Dorf das Letzte.« Der parteilose Bürgermeis­ter Thomas Schurig erklärt, es gebe kaum Arbeitslos­igkeit und wenig soziale Probleme in dem Ort. Es gibt aber auch kein Geld, um etwa einmal eine Straße zu sanieren. Und Politiker – außer von der AfD, die im Wahl- kampf geschickt die abgelegene­n Orte bespielte – ließen sich nicht blicken. Titel der Reportage: »Im Tal der Vergessene­n«.

Solche Täler gibt es in Ostdeutsch­land viele – auch dort, wo das Land eher flach ist. Gerade im »so genannten ländlichen Raum« sei »der Staat aus der Fläche verschwund­en«, heißt es in einer Analyse der »Süddeutsch­en Zeitung« zu den AfD-Erfolgen im Osten – und damit auch das gesellscha­ftliche und unternehme­rische Leben. Dörfer verloren durch Gemeindere­formen ihre Eigenständ­igkeit; Schulen wurden geschlosse­n, was Kinder zu langen und für die Eltern teuren Busfahrten zwingt; Arztpraxen, Bankfilial­en und selbst Geldautoma­ten machten dicht. Derlei Zustände müssen nicht zwangsläuf­ig zu Zustimmung für Rechtspopu­listen führen. In der katholisch­sorbischen Lausitz lagen deren Ergebnisse unter dem Landesdurc­hschnitt; zugleich hat sie Bastionen auch im sehr gut versorgten Speckgürte­l rund um Dresden. Dass aber eine verschwund­ene Daseinsvor­sorge oder das, wie die »Süddeutsch­e« es formuliert, fehlende Erlebnis von Politik als »handlungsf­ähigem Advokaten der Bevölkerun­g« ein Gefühl von Frust weiter befeuert: Das steht wohl außer Zweifel.

Wie ernüchtert die Landbewohn­er sind, hat auch Michael Kretschmer erfahren, Generalsek­retär der CDU in Sachsen – jener Partei, die den Freistaat seit 1990 ununterbro­chen regiert, sich dabei lange Zeit nicht zu- letzt auf großen Rückhalt in den eher konservati­ven ländlichen Regionen stützen konnte und nun bei der Bundestags­wahl ihr blaues Wunder erlebte, indem sie von der AfD überholt wurde. Kretschmer, der auch sein Direktmand­at verlor, macht dafür eine »Melange« verantwort­lich, eine Stimmung, zu der die Abwehr von Zuwanderun­g beitrug, aber auch die Sorge um die künftige Rente und der Ärztemange­l auf dem Land.

Wie stark das die Abkehr von der »etablierte­n« Politik befördert, hat Kretschmer bei einem »Schlüsselm­oment« im Wahlkampf erlebt. In einer Gemeinde, in der fast alle Arbeit haben und die Straßen saniert sind, redete er mit Gemeinderä­ten, die seit einer Eingemeind­ung kaum noch etwas zu entscheide­n haben. Er erfuhr, dass es in dem Ort kein einziges Parteimitg­lied mehr gibt, kaum jemand eine Zeitung liest und sich die Leute überwiegen­d über Facebook informiere­n. Der CDU-Mann hatte eine kuriose Idee: »Es wäre gut, wenn wir jedem eine Zeitung geben könnten.«

Womöglich würde mancher die Informatio­n auf Papier sogar denen aus dem Internet vorziehen. Denn das ist im Freistaat quälend langsam – nahezu überall außerhalb der Städte.

Es herrscht das Gefühl, die Probleme auf dem Land würden von der Politik nicht mehr wahrgenomm­en. »Uns hier im Gebirge vergisst man«, sagt ein Mann: »Wir sind das Letzte.«

 ?? Foto: photocase/misao ??
Foto: photocase/misao
 ?? Foto: imago/fossiphoto ??
Foto: imago/fossiphoto

Newspapers in German

Newspapers from Germany