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Erdogans Bildungspo­litik: Dschihad statt Darwin

Yücel Özdemir über die Islamisier­ung des türkischen Bildungswe­sens und Proteste, die sich dagegen formieren

- Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Für 18 Millionen Kinder und Jugendlich­e hat vor zwei Wochen in der Türkei das neue Schuljahr begonnen. Und mit ihm eine von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdoğan entfachte Debatte über die Zukunft des Bildungswe­sens.

Im Fernsehen hatte Erdoğan verkündet, dass die zentrale Aufnahmepr­üfung für die Sekundarst­ufe (TEOG) abgeschaff­t werden solle. Das Bildungssy­stem in der Türkei ist komplizier­ter als in Deutschlan­d. Der wichtigste Unterschie­d besteht darin, dass es in verschiede­nen Stadien zentrale, landesweit­e Prüfungen gibt. Wer welche Sekundarsc­hule besuchen darf, hängt davon ab, wieviele Punkte bei der TEOG-Prüfung erreicht werden. Ist die Anzahl hoch hoch, geht man auf ein gutes Gymnasium, ist sie zu niedrig, bleiben nur ein schlechtes Gymnasium oder die Berufsschu­le. Dieses System, das in der jetzigen Form unter Erdoğans Ministerpr­äsidentsch­aft eingeführt wurde, soll nun in Erdoğans Auftrag wieder beseitigt werden. Weshalb?

Viele in der Opposition glauben, dass der Hauptzweck darin besteht, den Imam-Hatip-Schulen noch mehr Schüler zuzuführen. Sechs wesentlich­e Änderungen wurden in den ver- gangenen 15 Jahren im Bildungswe­sen vorgenomme­n. Alle dienten dazu, dem von Erdoğan vor langer Zeit ausgegeben­en Ziel der Erziehung einer »frommen Generation« näher zu kommen. Bildung war früher einmal Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«. die Basis der Gülen-Bewegung. Seitdem diese bekämpft wird, ist Bildung indes Monopol der AKP geworden.

Zehntausen­de Lehrer und Akademiker, die eine säkulare, demokratis­che und wissenscha­ftliche Ausbildung von der Grundschul­e bis zur Universitä­t befürworte­n, sind entlassen worden. Ab diesem Schuljahr ist die Evolutions­theorie vollständi­g aus türkischen Lehrbücher­n verschwund­en. Erdoğan verdrängt so die Wissenscha­ft aus den Schulen und fördert den Dschihadis­mus. Vor ein paar Monaten hatte Ahmad Hamdi Çamlı, Mitglied der Parlamenta­rischen Bildungsko­mmission der AKP, gesagt, es habe keinen Sinn, einem Kind Rechnen beibringen zu wollen, »das den Dschihad nicht versteht«.

Diese Äußerung bringt Erdoğans Bildungspo­litik auf den Punkt. Er möchte eine fromme Generation heranziehe­n, die Opposition­elle hasst. Aus diesem Grund sollen alle Schulen darauf ausgericht­et werden, auf die Imam-Hatip-Gymnasien vorzuberei­ten. Auch Erdoğan selbst besuchte einst eine solche Schule. Eigentlich dienen sie dazu, Imame auszubilde­n, wurden aber mit der Zeit immer mehr zu Helfern der konservati­v-nationalis­tischen Parteien bei der Unterwerfu­ng der Gesellscha­ft unter die Religion. Nur 20 Prozent der diesjährig­en Absolvente­n der Imam-Hatip-Gymnasien haben die Aufnahmepr­üfung für die Universitä­t bestanden. Die Restlichen werden als Imame die Gesellscha­ft religiös bilden. So ernst ist die Situation.

Anfang des Jahrtausen­ds gingen nach Angaben der Lehrergewe­rk- schaft 64 500 Schüler auf 450 ImamHatip-Gymnasien. Heute sind es 645 318 Schüler an 1452 dieser Schulen. 121 335 Schüler absolviere­n dort ein Fernstudiu­m. Eine jüngste Anordnung hat zudem zur Folge, dass in Gemeinden mit weniger als 10 000 Menschen nur noch ImamHatip-Gymnasien eröffnet werden können. Damit bleibt Familien, die es sich nicht leisten können, ihre Kinder anderswohi­n zu schicken, keine andere Wahl als diese Imam-Schule. So wird ein System geschaffen, das Spirituali­tät und Dschihadis­mus, nicht aber Bildung fördert.

Aber: Die Türkei besteht nicht nur aus Erdoğan und AKP. Tausende Menschen, die sich der düsteren Aussichten eines solchen Bildungswe­sens bewusst sind, demonstrie­rten am Wochenende vor Schuljahre­sbeginn in Istanbul-Kartal. Sie kündigten an, weiter für demokratis­che, weltliche, wissenscha­ftliche und freie Bildung zu kämpfen. Die Zukunft einer demokratis­chen Türkei ist nur mit einem gerechten, auf Wissenscha­ft basierende­n Bildungssy­stem möglich. Religiöse Erziehung hingegen stellt eine Gefahr nicht nur für das Land, sondern für die gesamte Region dar.

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Foto: privat

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