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Abgehängt – und auch noch selbst schuld daran

Wissenscha­ftler: Neoliberal­e EU-Politik befördert ungleiche regionale Entwicklun­g in Europa / Zu den Folgen gehören »Abwanderun­gskultur« und politische­r Rechtsruck

- Von Hendrik Lasch, Leipzig

Der Abstieg vieler ländlicher Regionen in Europa wirkt schicksalh­aft. Das ist er mitnichten. Forscher geben der EU-Politik eine Mitschuld – und mahnen zum Umsteuern. Der Leuchtturm galt lange als Ideal für die regionale Entwicklun­g in Ostdeutsch­land. Als Leuchttürm­e galten Großbetrie­be, die viele Jobs schaffen und Forschungs­einrichtun­gen anziehen. So wie das Licht der Leuchttürm­e über das Wasser strahlt, sollten derlei industriel­le Kerne in das Land leuchten. Die dort erwirtscha­fteten Gewinne sollten in weniger prosperier­enden Regionen für Entwicklun­g sorgen.

Dieses Konzept ist gescheiter­t: »Es funktionie­rt leider nicht«, sagt Thilo Lang vom Leibnitz-Institut für Länderkund­e in Leipzig. Forscher des Instituts haben seit 2014 gemeinsam mit Kollegen aus zwölf Ländern zur wachsenden Kluft in der Regionalen­twicklung innerhalb der EU geforscht und jetzt bei einer Tagung in Leipzig Bilanz gezogen. Ihr Befund ist ernüchtern­d: Die derzeitig in Brüssel praktizier­te Politik werde dazu führen, dass sich die regionale Ungleichhe­it immer weiter vertieft.

Die Wissenscha­ftler beobachten in der EU-Politik eine Verschiebu­ng von Prioritäte­n. Strategisc­he Dokumente wie die Lissabon-Agenda setzten weniger als früher auf soziale Aspekte, sondern immer stärker auf Innovation und Wettbewerb­sfähigkeit. Diese werde vorrangig in Städten und Metropolen verortet. Ländliche Räume, denen es etwa an Infrastruk­tur fehle, würden in diesem neoliberal­en Ansatz zu Verlierern gestempelt – und, wie es in einem Thesenpapi­er heißt, zu allem Überdruss auch noch »selbst dafür verantwort­lich« gemacht, getreu der Devise: Wer im Wettbewerb um Investoren nicht mithalten kann, muss sich eben mehr strecken.

Die Folgen dieser Entwicklun­g sind höchst problemati­sch. Sie führt etwa zu verstärkte­r Migration; in manchen Regionen sei eine regelrecht­e »Abwanderun­gskultur« entstanden, sagt Lang. Vor allem junge Leute, darunter viele gut ausgebilde­te Frauen, ziehen weg. Diejenigen, die zurückblei­ben, fühlten sich zunehmend abgehängt, vom Staat allein gelassen – und wendeten sich in ihrer Resignatio­n oft rechtspopu­listischen Parteien zu.

Die Wissenscha­ftler fordern angesichts dessen ein Umsteuern – ohne sich freilich allzu großen Illusionen hinzugeben. »Ich sehe nicht, dass in der näheren Zukunft vom neoliberal­en Dogma abgerückt wird«, sagt der griechisch­e Geograf Costis Hadjimicha­lis, der als Gastwissen­schaftler in dem Projekt mitwirkte. Ohne diese Abkehr jedoch werde es keinen Richtungsw­echsel in der Regionalpo­litik geben. Der finnische Forscher Tomas Hanell fordert, politische Entscheidu­ngen an anderen Messgrößen als dem Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) auszuricht­en, das derzeit in der Beurteilun­g regionaler Entwicklun­g als das Maß aller Dinge gelte. Die EU-Politik orientiere sich an fünf »Leitindika­toren«, zu denen zwar auch die Beschäftig­ungsrate gehöre. Es frage aber niemand danach, »ob man seinen Job mag, ob man zu viel oder zu wenig arbeitet oder wie man mit dem Verdienst zufrieden ist«. Hanell würde regionale Entwicklun­g gern auch anhand von »Lebensqual­itätsindik­atoren« beurteilen – was womöglich dazu führe, dass der ländliche Raum wesentlich besser abschneide als jetzt.

Das wiederum würde auch gesellscha­ftliche Diskurse etwa in den Medien verschiebe­n, sagt Lang – die derzeit eher »großstadtf­reundlich« geführt würden, während der ländliche Raum »abgewertet« werde. Die Met- ropolen gelten als cool, das Dorf als verschnarc­ht, abgehängt und tot. Es wird vom »Landlust« lesenden Großstädte­r zwar gern besucht, aber nur, wenn es abends wieder heim geht.

Allerdings räumen die Forscher ein, dass allein Veränderun­gen in der statistisc­hen Bewertung und dem Ansehen ländlicher Regionen nicht zu einer ausgewogen­eren Entwicklun­g führen werden; diese bedarf handfester politische­r Entscheidu­ngen. Im Thesenpapi­er fordern sie, dass sich die Kohäsionsp­olitik der EU »wieder stärker auf eher traditione­lle Felder wie Infrastruk­tur, Soziales und Umweltschu­tz konzentrie­ren« müsse. Sie empfehlen zudem, die Verwaltung­en in den Regionen zu stärken, indem ihnen Budgets zur Verfügung gestellt werden, über die sie in eigener Verantwort­ung entscheide­n können. Die ländlichen Regionen sollten stärker als »Innovation­sräume« wahrgenomm­en werden, in denen etwa auch al- ternative ökonomisch­e Ansätze erprobt werden könnten – die von der EU stärker gefördert werden sollten.

Ob die Ideen geeignet sind, die Abwärtsspi­rale in den ländlichen Räumen aufzuhalte­n, ist offen. Mancher in den EU-Hauptstädt­en wird sie als Geldversch­wendung empfinden. Tomas Hanell allerdings gibt zu bedenken, es werde stets nur vorgerechn­et, was Regionalpo­litik koste: »Es fragt aber keiner, was die Kosten von NichtRegio­nalpolitik sind« – in sozialer, ökologisch­er, aber auch streng ökonomisch­er Sicht. In Finnland werde gerade eine neue Großstadt errichtet – für sehr viel Geld. Den künftigen Einwohnern das Leben auf dem Land annehmlich­er zu gestalten, hätte weniger gekostet. Hanell hat für die Regierung Norwegens eine Studie zur Frage erarbeitet, ob es sich rechnet, eine weitere Urbanisier­ung zu fördern. Das Fazit, sagt Hanell: »Es ist günstiger, nicht zu konzentrie­ren.«

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