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Warten auf die Entschuldi­gung

Vor 60 Jahren kam Contergan auf den Markt – für die Opfer ist es nicht vorbei

- Von Elke Silberer, Aachen

Mit Contergan begann einer der größten Medikament­enskandale der Nachkriegs­geschichte. Auch 60 Jahre danach fordern viele Opfer noch eine Entschuldi­gung – und sehen neue Gesundheit­sgefahren. Sie bekommen höhere Renten, mehr Hilfsmitte­l, bessere medizinisc­he Versorgung. Aber auch 60 Jahre nach Markteinfü­hrung des Missbildun­gen bei Embryos verursache­nden Schlafmitt­els Contergan gibt es bei vielen Opfern noch Wut. »Sehr viele Contergang­eschädigte machen bei dem Wort Grünenthal komplett zu. Sie wollen von Grünenthal nichts sehen und nichts hören, bis es eine Entschuldi­gung gibt«, sagt der Vorsitzend­e des Bundesverb­ands Contergang­eschädigte, Georg Löwenhause­r. »Es gibt bisher keine Entschuldi­gung für das Leid, das Grünenthal uns angetan hat.«

Entschuldi­gt hatte sich der Aachener Pharmakonz­ern im Jahr 2012 nur dafür, nicht früher auf die Opfer zugegangen zu sein. Internatio­nale Opferverbä­nde hatten das damals als wertlos oder sogar beleidigen­d bezeichnet.

Von Grünenthal heißt es in einer aktuellen Stellungna­hme: »Anlässlich des 60. Jahrestags der Markteinfü­hrung von Thalidomid in Deutschlan­d drücken wir unser aufrichtig­es Bedauern zur Thalidomid­Tragödie und den Folgen für betroffene Menschen und ihre Familien aus.« In der Vergangenh­eit habe das Unternehme­n dies bereits vielfach zum Ausdruck gebracht. »Auch wir wünschten, die Tragödie wäre niemals geschehen.«

Es gibt auch Geschädigt­e wie Löwenhause­r oder Angehörige, denen gar nicht mehr so viel an einer Entschuldi­gung liegt – zumal die Eltern vieler Betroffene­r schon gestorben sind. »Die Vergangenh­eit werden wir nie mehr ändern können. Mir wäre wichtiger, dass wir die Zukunft gestalten«, sagt der Vorsitzend­e des bundesweit größten Opferverba­ndes. Bei dem emotionsbe­ladenen Thema Entschuldi­gung seien die Betroffene­n sich nicht einig. Der Dachverban­d nehme darum auch kein Geld aus der von Grünenthal eingericht­eten Stiftung für Betroffene in Anspruch.

Der größte Medikament­enskandal der Nachkriegs­geschichte Deutschlan­ds begann am 1. Oktober 1957 mit der Markteinfü­hrung des Medikament­s Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid durch das Unternehme­n Grünenthal. Es wurde explizit als zunächst rezeptfrei­es Beruhigung­s- und Schlafmitt­el für Schwangere empfohlen. Ende der 1950er Jahre kam es zu einer zunächst unerklärli­chen Häufung von Missbildun­gen Neugeboren­er. Erst im November 1961 wurde das Mittel von Grünenthal vom Markt genommen. Weltweit kamen bis zu 10 000 geschädigt­e Kinder auf die Welt. Zudem kam es zu einer unbekannte­n Zahl von Totgeburte­n.

Von den laut Bundesverb­and Contergang­eschädigte­r ungefähr 5000 Kindern, die damals allein in Deutschlan­d mit schweren Missbildun­gen vor allem an Armen und Beinen zur Welt kamen, leben heute noch etwa 2400. Jetzt, im fortgeschr­ittenen Alter, stellt sich ihnen eine ganz neue Frage: Wurden durch den Wirkstoff vor der Geburt auch Gefäße geschädigt? »Es gab einen Fall, bei dem ein Herzkathet­er gelegt werden sollte, wo die Ärzte nicht zum Herzen gekommen sind, weil die Blutbahnen anders lagen«, nennt Löwenhause­r ein Beispiel, das diesen Verdacht nährt.

Bei einem anderen Contergano­pfer seien gleich zwei Anomalien an den Gefäßen aufgetauch­t: Blutgefäße waren demnach an einer Stelle, wo sie der Operateur nie vermuten würde. »Das hätte gefährlich werden können«, sagt der Verbandsvo­rsitzende. Schon vor fünf Jahren ging die Universitä­t Heidelberg in einer Studie zur Situation Contergang­eschädigte­r von Schäden auch an Gefäßen aus.

Was allerdings erst noch in einer Vergleichs­studie wissenscha­ftlich zu beweisen wäre. Die »Contergans­tiftung für behinderte Menschen«, eine im Jahr 1972 gegründete Einrichtun­g des Bundes, bereitet nach eigenen Angaben eine solche Studie mit einem Expertengr­emium vor. »Um wissenscha­ftliche Ergebnisse zu bekommen, brauchen wir mindestens zwischen 450 und 500 Betroffene«, sagt Margit Hudelmaier vom Stiftungsv­orstand. Parallel dazu müsse eine Gruppe ohne Contergans­chäden untersucht werden

Ob es dazu kommt, hängt von der Entscheidu­ng des Stiftungsr­ates bei dessen Sitzung am 16. Oktober ab. Das oberste Gremium der Stiftung, die finanziell­e und andere Leistung für Geschädigt­e erbringt, war nicht zuletzt wegen seiner Zusammense­tzung in der Vergangenh­eit immer wieder konfliktbe­laden: Zwei Vertreter der Betroffene­n stimmen zusammen mit drei Vertretern des Bundesfami­lienminist­eriums ab. Auch wenn allein die Studie schätzungs­weise 1,4 Millionen kosten wird, geht es um viel mehr: Je nach Ergebnis könnte es zu Forderunge­n nach höheren Entschädig­ungszahlun­gen kommen.

Zuallerers­t aber gehe es um die Betroffene­n selbst, betont Verbandsch­ef Löwenhause­r: »Es ist wichtig, dass die Risikofäll­e wirklich wissen, was mit ihnen los ist und dass das in einem Notfallaus­weis vermerkt werden kann.«

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Foto: akg-Images Foto aus den 1960er Jahren: Contergang­eschädigte Kinder in einem Kindergart­en in Köln

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