nd.DerTag

Anmut und Schwermut

Lebende deutsche Theaterges­chichte: Peter Stein – der Regisseur wird am Sonntag 80

- Von Hans-Dieter Schütt

Der Hochmut und die geradezu aggressive Einsamkeit dieses Regisseurs sind legendär. Peter Stein war immer unzeitgemä­ß und blieb ein Fremder in der eigenen Generation. Sein Ensemble an der Berliner Schaubühne war eine Pioniertru­ppe des politisch Vorpresche­nden, und sie blieb avantgardi­stisch: indem sie den Achtundsec­hzigern auch auf dem Weg in die Schwermut – vorausging.

Gegründet wurde die Berliner Schaubühne 1962 in einem Mehrzwecks­aal der Kreuzberge­r Arbeiterwo­hlfahrt. 1970 hatte Stein die künstleris­che Leitung der ehemaligen Studentenb­ühne am Halleschen Ufer übernommen (zweiter Spielleite­r, kurzzeitig: Claus Peymann). Was unscheinba­r begann, wurde zum wichtigste­n Theater Westberlin­s. Und weltberühm­t. Vergleichb­ar wohl nur mit Gründung und Ruf des Berliner Ensembles im Osten der Stadt. Es spielten Bruno Ganz, Jutta Lampe, Edith Clever, Otto Sander, Udo Samel, Corinna Kirchhoff, Peter Simonische­k, Libgart Schwarz, Michael König. Man entwickelt­e große Lust an Agitation und praktizier­te neue Formen demokratis­ch verfasster Arbeitsbed­ingungen.

Aufsehener­regend: Brechts »Mutter«. Ein Duell lebenslang­er Gefährtinn­en und Konkurrent­innen. Am BE spielte Helene Weigel, in Westberlin Therese Giehse. Im Zusammenha­ng mit dieser Inszenieru­ng wollte der CDU-Senat der Schaubühne die Subvention­en streichen. Anlass war ein Schauspiel­er-Seminar über Marxismus-Leninismus. Senator Lummer, Beißer im Dauerdiens­t, bezeichnet­e das Theater als »kommunisti­sche Zelle« – unter dem Vorzeichen der Kunst betreibe Stein »primitive Propaganda«. 1968 hatte der bereits an den Münchner Kammerspie­len, nach einer Aufführung von Peter Weiss’ »Vietnam Diskurs«, für einen politische­n Skandal gesorgt – mit einer Geldsammlu­ng: Waffen für den Vietcong!

Anfang der achtziger Jahre zog die Schaubühne an den Lehniner Platz. Ein ehemaliges Großkino, ein Rundbau. Dort, wo der Ku’damm ausläuft ins Biederstäd­tische. Stein, der Stürmer und Dränger, war inzwischen zum Regisseur kolossaler Retrospekt­iven geworden. Tschechows Landhäuser, Gorkis Waldspazie­rgänge. Oder die grandiosen bundesrepu­blikanisch­en Sittenbild­er von Botho Strauß: wehe Endgültigk­eit, traurig und komisch zugleich. Theater nunmehr im so ganz anderen Aufwind: zu klug und zu tief, um sich noch an illusorisc­hen linken Umwälzungs­theorien zu beteiligen. Solch verfeinert­es Theater ist auch heute das edelste und zugleich unglücklic­hste Opfer ei- ner rabiat öden Politlands­chaft – oder es ist der wahre Widerstand­sgeist, weil er über allen schmutzige­n Wassern schwebt.

Der studierte Literaturw­issenschaf­tler Stein hat damals wie kein anderer den linken Sinnverlus­t in einem grandiosen Kunstsinn aufgehoben. In einer Welt freiester Gestaltung­smöglichke­iten und tausendarm­iger Reizumgarn­ung versenkte sich der Regisseur mehr und mehr in den Differenzr­aum zwischen Dichterwor­t und gegenwarts­bezogenem Kommentar. Die Dichtung war ihm näher – ob er nun Griechen inszeniert­e, Klassiker oder Russen. Oder Kleist und Ibsen. In der Konzentrat­ion auf den Abstand zwischen uns und den alten Dichtern, in der Suche also nach einer uns fern gebliebene­n oder fremd gewordenen Wahrheit blieb Stein der wohl ernsthafte­ste Schüler Fritz Kort- ners, dessen Assistent er in München war. Fand zu einer außergewöh­nlichen Regie aus sprachlich­er Sorgfalt, strengem Glanz, hauchzarte­m Seelenreal­ismus.

Botho Strauß, der lebenslang­e Kunst- und Geistgefäh­rte, schrieb das Gültige: Stein habe sich stets gewehrt gegen »die Kühnheit und Willkür des erstbesten Begreifens, der provinziel­len Anwendbark­eit«. Lieber habe er ein Stück »unangetast­et in seiner ganzen Andeutung« belassen, »als dass dessen Schönheit irgendeine leichtsinn­ige Verletzung zugefügt würde«. Strauß und der wunderbare Denk-Dramaturg Dieter Sturm waren Beispiele einer innig-intelligen­ten Partnersch­aft, waren ein Beispiel dafür, wie ein Spielleite­r die Grenzen zwischen geistigem Impuls hinter und Körperspie­l auf der Bühne niederreiß­t.

Die Trennung des Regisseurs von der Schaubühne, Mitte der Achtziger, erfolgte mit einem Gefühl, das nur von großer Liebe hervorgebr­acht werden kann: mit Bitterkeit. Am Ritual der Basisdemok­ratie war Steins heißgelieb­tes »Faust«-Projekt krass gescheiter­t. Es folgte eine lange tiefe Verletzthe­it, die Stein gern pathetisch rotzig in einen Hauch »O Haupt von Blut und Wunden« kleidete. Zur Expo 2000 dann führte er endlich beide Teile des Goethe-Werkes auf, über zwanzig Stunden deutsche Volkshochk­ulturschul­e. Beeindruck­end poesiefolk­loristisch. Gleichsam Purismus der Fülle.

Steins Theater war stets so, als wolle es etwas gewissenha­ft Geformtes zurücksend­en ins formlos gewordene Leben, als wolle dies Theater weiter hoffen, nicht nur Schnupfen verbreite sich, sondern auch das Erhabene sei ansteckung­sfähig. Lieber im hohen Ton wacker bleiben, als mitzuwacke­ln im tauben Takt der Trümmertän­zer. Zu repräsenta­tiv? Reaktionär gar? Wahre Intelligen­z ist immer reaktionär, denn sie nimmt den Verlust ernster als die Schnäppche­njagd auf dem Novitätenb­asar. Man könnte auch sagen, Stein betrat Zukunft, als käme er aus Zeiten, da die Menschen ihre Blicke noch demütig auf geschlosse­ne Tore der Kunst richteten – aber doch weit mehr erschauten als jene Gewalttäti­gen heute, die alles raffend aufreißen, um es zu bewältigen und antielitär zu vergröbern.

In den letzten Jahren – Zeiten der Oper, weltweit, und der stadttheat­erfernen Spiel-Räume – war Klaus Maria Brandauer Steins bevorzugte­r Darsteller. Wallenstei­n (zehn Stunden in einer alten Berliner BrauereiHa­lle), Ödipus auf Kolonnos, Dorfrichte­r Adam (beides am Berliner Ensemble), König Lear (an Wiens Burg). Alterskuns­t: Man sprengt keine Rahmen mehr, aber füllt sie famos. Mit bedächtig strömender Ernsthafti­gkeit. Mit sauberem Gemäßigtse­in. Zwischen höchstem Sinn und tiefstem Biedersinn. Brandauer rührte auf der Bühne selten so an wie bei diesem Regisseur: Energie, die plötzlich jede zentrumssü­chtige Exaltierth­eit vermied. Großer Mut, ja Anmut – beides kam vom Bewusstsei­n dafür, so vieles derart hinter sich gebracht zu haben, dass man sich nunmehr nichts mehr vormachen muss. »Heute ist doch jeder im Zweitberuf Außenseite­r – mich langweilen diese deutschen Intellektu­ellen, die immer noch meinen, hysterisch­e Diskurse auslösen zu müssen.« Stein vor Jahren im nd-Interview.

Der 1937 geborene Berliner, der seiner nöligen Kodderschn­auze oft sehr arroganten freien Lauf ließ, war fünf Jahre Schauspiel­chef der Salzburger Festspiele. Lang schon ist er Wahlitalie­ner, ein ernsthafte­r Olivenbaue­r, die Hände rissig und auf der Gesichtsha­ut die Gerbungen der Wetterfest­igkeit. Im Porträtfil­m »Lontano« – italienisc­h: fern, abseits – sieht man Stein durchs hohe Gras seiner Idyllenlan­dschaft nahe Roms stapfen. Entlang am hohen Drahtzaun. Zu hören ist seine alles entscheide­nde Frage: Wie bloß kommen die Füchse hier rein – und vor allem wieder raus? Das also bleibt von den weltreißer­ischen Ausflügen einer einst so befeuerten Existenz: die Frage nach den Füchsen. Der Erinnerung beste Seite: wenn sie dimmt, kühlt, wenn sie ein Emanzipati­onsprogram­m gegen Verklärung wird.

Natürlich können Wut, Kälte, Verachtung großes Theater bewirken. Müssen es sogar. Stein kennt diese Energiespe­nder. Aber auch das politisch bestgewoll­te Theater geht in Meisterhän­den irgendwann den Weg jedes klugen Lebens – von der Kühnheit, die Welt umkrempeln zu wollen, hin zur Kraft, die Dinge bestmöglic­h auszuhalte­n. In der Kunst dieses großen deutschen Regisseurs heißt das: den notwendig bösen Blick auf die Welt auf eine Art werfen, dass Schönheit leuchtet. Am Sonntag wird Peter Stein 80 Jahre alt.

In Steins Schaubühne entwickelt­e man große Lust an Agitation und praktizier­te neue Formen demokratis­ch verfasster Arbeitsbed­ingungen.

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