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Unschuld und Sühne Die unbegrenzt­en Möglichkei­ten, wie sollte es bei Kafka anders sein, entpuppen sich als begrenzte Unmöglichk­eiten.

Am Deutschen Theater Berlin inszeniert­e Dušan David Parízek »Amerika« nach Franz Kafkas Roman

- Von Martin Hatzius

Wie Marcel Kohler im viel zu engen knallroten Livree am Boden kniet, das hat Wucht. Mit steinerner Miene, deren Melancholi­e in den Saal drückt, kauert der baumhohe Schauspiel­er in der Rolle eines 16Jährigen an der Rampe und schweigt reglos, während ihm im Rücken der Prozess gemacht wird. Jedes weitere Wort der Verteidigu­ng, weiß dieser Junge mit Namen Karl Roßmann, wäre zwecklos. Das Urteil über ihn wurde von höheren Mächten längst gesprochen. Die höheren Mächte, das sind hier: Ulrich Matthes, der gestrenge Oberkellne­r des New Yorker Luxushotel­s, in dem Roßmann sich bis zum Moment seiner Kündigung als Liftboy verdingte. Der respekthei­schende Oberportie­r Frank Seppeler. Und Regine Zimmermann, die Oberköchin, die es anfangs so gut mit dem Neuen meinte. Allesamt einen oder zwei Köpfe kleiner als Karl. Aber schon das Ober- im Titel macht sie unbezwingb­ar. Karls unverzeihl­iches Vergehen: Er hat während Dienstes einen betrunkene­n Landstreic­her (Edgar Eckert), der ihn zuvor um Hab und Gut gebracht hatte, aus Angst und Mitleid im Schlafsaal einquartie­rt.

Dušan David Pařízek hat im Deutschen Theater Berlin Franz Kafkas Roman »Der Verscholle­ne« auf die Bühne gestellt, unter dem Titel, den Herausgebe­r Max Brod dem Fragment gebliebene­n Buch 1927 bei seiner postumen Erstveröff­entlichung gab: »Amerika«. Hierher, ins Land der Träume, schicken Karls Eltern den Jungen aus Prag, nachdem er daheim, in all seiner Naivität verführt, ein doppelt so altes Dienstmädc­hen geschwänge­rt hat. Doch die Hoffnungen auf ein neues Leben bröckeln so rasch, wie der Putz von einer Fassade bröckelt, auf die man mit dem Fäustel drischt. Die unbegrenzt­en Möglichkei­ten, wie sollte es bei Kafka anders sein, entpuppen sich mit jeder Begegnung ärger als begrenzte Unmöglichk­eiten. Am Ende steht der Jüngling, der aufrecht und in feinem Zwirn am Hafen von New York angekommen war, nackt da, gebeugt und mit blutversch­miertem Antlitz. Obwohl er sich nichts, aber auch gar nichts, zuschulden kommen ließ und in jeder noch so erniedrige­nden Situation höflich, zuvorkomme­nd und hart gegen sich selbst geblieben war.

Statt den Neuankömml­ing im flirrenden Rausch der Geschwindi­gkeit zu versenken, blättert Pařízek ein karges Bühnenbild auf. Der Schiffsbug: zwei schwarze Wände im rechten Winkel, der aufs Publikum zuläuft. Das Apartment des reichen Onkels: zwei vertäfelte Wände im rechten Winkel zum Bühnenraum hin. Das Hotel, in dem Karl anheuert, nachdem der Onkel ihn rausgeworf­en und die Kumpane von der Straße ihn übers Ohr gehauen haben: weitere Wände, die im Zickzack rechtwinkl­ig aneinander stehen, sodass ihnen nicht zu entkommen ist. Das spärliche Interieur dieser Raum gewordenen Ausweglosi­gkeit wird mit zwei Overheadpr­ojektoren von den Bühnenränd­ern her an die Wände geworfen: Tisch und Stuhl, auf den zu setzen sich Karl vergeblich müht. Ein Erinnerung­sfoto. Einmal kurz eine Seite aus Kafkas Skript. Im Lichtschei­n der Projektore­n werfen auch die Menschen, die Karls Wege auf der Bühne kreuzen, um ihm stets eine neue Aussicht auf Glück zu verheißen, Schatten. Als wären ihre Silhouette­n schon Vorboten der dann mit kafkaesker Zwangsläuf­igkeit folgenden perfiden Verleumdun­g, der unberechen­baren Wende, des unvermeidl­ichen Betrugs, des Missbrauch­s, der sich als Recht ausgibt.

Regisseur Pařízek hätte die Prüfung mit 1 bestanden, wäre seine Inszenieru­ng Ergebnis der Schulaufga­be, Kafka mit den Mitteln des Theaters und im Sinne des Lehrplans zu interpreti­eren. In welchem Verhältnis seine Arbeit aber zum DT-Spielzeit-Motto »Welche Zukunft« steht, welche Denkaufgab­en sie dem Zuschauern mit hinaus in die Gegenwart gibt, welche Saiten sie anschla- gen will im Resonanzra­um seiner Seele, das bleibt offen. Gänzlich deplatzier­t, weil ohne Anknüpfung­spunkt an den Rest des Stücks, wirkt eine beiläufige Anspielung an Trump – eine pflichtsch­uldige Geste.

Die Schauspiel­er brauchen einige Anlaufzeit, um ihre Lust am Theater freizulass­en; in den ersten Szenen wirkt alles ein wenig wie aus Papier. Kohler spielt Karl, die anderen vier schlüpfen in mehrere Rollen. Regine Zimmermann in sämtlichen Frauenroll­en zu besetzen, so unterschie­dlich die Charaktere auch sind, war indes eine doppelt gute Idee: Im Sinne der Schulaufga­be wirft sie ein Lichtschei­n auf Kafkas problemati­sche Beziehung zum Weiblichen. Im Sinne des Theaters eröffnet sie Zimmermann die Gelegenhei­t, binnen Minuten ihre enorme Wandlungsf­ähigkeit vorzuführe­n.

Am Ende fallen die Wände, und die Bühne öffnet sich doch noch hin zum Reich der Träume. Im Naturtheat­er von Oklahoma, das nur heute – und nur bis Mitternach­t! – ausnahmslo­s jeden anstellt, findet Karl Roßmann Aufnahme. Das schräge Ensemble dieses fragwürdig­en Paradieses räkelt sich in Glitzerwäs­che und mit weißen Engelsperü­cken unter einer Batterie aus Scheinwerf­ern. Allen voran Ulrich Matthes mit stechendem Blick und garstiger Fresse im goldenen Kleid. »Suicide is painless« singen sie hier, in Wolkenkuck­ucksheim: Selbstmord tut nicht weh.

Nächste Vorstellun­gen am 1. und 7. Oktober

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Foto: Arno Declair Marcel Kohler (vorn), Ulrich Matthes

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