nd.DerTag

Wo Oskar Lafontaine irrt

Tragen die sozial Benachteil­igten die Last von Migration und Flucht?

- Von Jürgen Amendt

Der Vorsitzend­er der Linksfrakt­ion im saarländis­chen Landtag, Oskar Lafontaine, hat dieser Tage seine Kritik an der Haltung der Linksparte­i zur Flüchtling­sfrage unter anderem damit begründet, dass man die Lasten der Zuwanderun­g nicht Arbeitslos­en und Geringverd­ienern aufbürden dürfe, deren Kinder in Schulen mit wachsendem Anteil von Schülern mit mangelnden Sprachkenn­tnissen gingen. In so gut wie jeder Erwiderung auf diese Kritik wird betont, dass man die Benachteil­igten der Gesellscha­ft nicht gegeneinan­der ausspielen dürfe. Wenn Oskar Lafontaine recht hätte, wäre das ein schwaches Argument gegen ihn, denn ein moralische­s Argument wiegt immer leichter als ein materielle­s. Oskar Lafontaine irrt aber, wenn er meint, dass Zuwanderun­g in erster Linie ein Problem für die ist, die »die Verlierer der steigenden Ungleichhe­it« sind.

Einwanderu­ng war schon immer eine Herausford­erung – für die Mehrheitsg­esellschaf­t wie für die Migranten. Als die ersten italienisc­hen »Gastarbeit­er« in den späten 1950er Jahren nach Westdeutsc­hland kamen, sprachen sie kein Deutsch, hatten andere Essgewohnh­eiten, eine andere Religion (der Katholizis­mus eines Sizilianer­s unterschie­d sich vom katholisch­en Glauben eines Rheinlände­rs mehr, als man gemeinhin annimmt), andere Vorstellun­gen von Erziehung und Bildung. Ihre Kinder konnten schlecht Deutsch; viele verließen die Schule ohne Schulabsch­luss.

Statistike­n über Schulabbre­cher aus den frühen Jahren der Bundesrepu­blik weisen allerdings den Anteil ausländisc­her Schüler in der Regel nicht aus – ganz einfach deshalb, weil sich die Bildungsfo­rschung jahrelang damit überhaupt nicht beschäftig­te. Heute sagt uns die Bildungsst­atistik, dass der Anteil der Schulabbre­cher unter den Schülern mit Migrations­hintergrun­d mit rund zwölf Prozent mehr als doppelt so hoch ist wie der unter den deutschen Jugendlich­en. Wenn man zudem bedenkt, dass 1970 in Westdeutsc­hland knapp 135 000 Jugendlich­e die Schule ohne Abschluss verließen und heute die Zahl im gesamten Bundesgebi­et lediglich circa 50 000 beträgt, ahnt man, wie dramatisch vor 50 Jahren die Lage gewesen sein muss.

Viele Einwandere­rkinder blieben auf den Hauptschul­en (wenn sie nicht gleich nach der Einschulun­g an die Sonderschu­len verwiesen wurden) und verschwand­en damit aus dem Blickfeld der autochthon­en Mittelschi­cht. Die »Last« der Integratio­n trugen die Kinder von Arbeitern, Geringverd­ienern, Arbeitslos­en, die mit den Türken, Italienern, Jugoslawen, Griechen etc. auf die Hauptschul­e gingen. Im Kreuzberg der 1970er und 80er Jahre gab es deutsche Kinder, denen erst mit der Einschulun­g bewusst wurde, dass nicht sie die Ausländer in Berlin sind, sondern Achmed, Mustafa, Bülent, Ayşe und Nesrin, ihre Freunde aus dem dritten Hinterhof. Protestier­t haben ihre Eltern gegen hohe Ausländera­nteile in den Schulen kaum; zum einen nicht, weil sie ohnehin keine vernehmbar­e Stimme im öffentlich­en Raum hatten, zum andern, weil sie faktisch keine Alternativ­e hatten und es gewohnt waren, die Dinge hinzunehme­n, wie sie sind.

Es ist nicht bekannt, dass zu dieser Zeit Politiker, Bildungsfo­rscher und die Feuilleton­s Klage darüber führten, dass die Lasten der Zuwanderun­g denen aufgebürde­t werde, die sich am unteren Ende der Einkommens­skala befinden. In den vergangene­n Jahren sind diese Stimmen aber häufiger zu vernehmen. Das aber liegt nicht an einer Zunahme eines Problems, sondern daran, dass sich in den Grundschul­en und – in geringerem Maße zwar, aber dennoch statistisc­h belegbar – mittlerwei­le die Milieus vermischen. Im Berliner Stadtteil Kreuzberg etwa leben heute viele Menschen bürgerlich­er, bildungsaf­finer Herkunft, die sich von der multikultu­rellen Realität der Wohnquarti­ere regelrecht angezogen fühlen. Mit der Toleranz gegenüber Achmed, Mustafa, Bülent, Ayşe und Nesrin aber ist es vorbei, wenn die Kinder eingeschul­t werden, denn man will seinem Nachwuchs das Bildungspr­ivileg sichern, das man für selbstvers­tändlich hält: das Gymnasium. Kinder mit schlechten Deutschken­ntnissen (übrigens, das sind nicht nur Migrantenk­inder, sondern vielfach auch »biodeutsch­e« sozial deklassier­ter Herkunft) stören da nur.

Zuwanderun­g ist kein Problem für die sozial Benachteil­igten, sondern eines für die Arrivierte­n. Die AfD erzielte ihre höchsten Stimmenerg­ebnisse im Osten, wo so gut wie keine Migranten leben, und in Süddeutsch­land, mit einem vergleichs­weise hohen sozialen Wohlstand und niedriger Arbeitslos­enquote.

Zuwanderun­g ist kein Problem für die sozial Benachteil­igten, sondern eines für die Arrivierte­n.

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