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In guter Nachbarsch­aft

Die 15. Istanbul Biennale steht unter dem Titel »a good neighbour«. Auf der seit 1987 stattfinde­nden Ausstellun­g werden Werke von etwa 60 Künstlerin­nen und Künstlern aus über 30 Ländern präsentier­t. Sie sind bis Mitte November an verschiede­nen Orten der S

- Von Radek Krolczyk und Hannah Wolf

Ein Junge wirft sich auf den Boden, greift um sich, wirkt getrieben, will sich mitteilen, gibt unartikuli­erte Laute von sich, hält den Kontakt zur Kamera. Die Videoarbei­t »Wonderland« des türkisch-kurdischen Künstlers Erkan Özgen zeigt einen aus Kobane geflohenen, taubstumme­n Jungen, der mit schier unerträgli­cher Intensität von den Kriegsgräu­eln, die er unter dem IS erlebte, berichtet. Der gestische Bericht von Erschießun­gen und Enthauptun­gen ist eindrückli­cher, aber auch präziser, als jeder gesprochen­e es sein könnte.

Die Deutlichke­it, mit der die Arbeit wortlos den nur wenige Kilometer hinter der türkischen Grenze stattfinde­nden Krieg zeigt, überrascht ebenso wie Diyarbakir als Wohnort des Künstlers. Angesichts der Berichters­tattung in Deutschlan­d übersteigt diese Explizität die Erwartung dessen, was gesagt werden darf in Tayyipista­n, wie der inhaftiert­e Journalist Deniz Yücel in seinen Texten Erdogans Autokratie zu nennen pflegte.

Wie es derzeit um die Freiheit von Meinung und Presse in der Türkei steht, spiegeln die Reden rund um die Eröffnung der 15. Istanbul Biennale wieder. »A good neighbour« ist ihr Titel, der zunächst alles und nichts bedeuten kann – privat wie auch global. Ein diplomatis­cher Kniff? Die Reden jedenfalls sind knapp, und es scheint so, als wollte man sie am liebsten gar nicht halten. Politische Themen kommen darin dennoch immer wieder vor. Sowohl die Direktorin der Istanbuler Kunstschau, Bige Örer, als auch das skandinavi­sche Künstlerdu­o Elmgreen & Dragset, die Kuratoren der Biennale, sprechen von weltweitem Erstarken autoritäre­r Regime, wachsendem Nationalis­mus, Brexit. Der Name Donald Trump fällt oft, der Name Erdogan nie. Entspreche­nd schnell stellt sich die Frage nach der Zensur: »Es gab keine Zensur, wir konnten alles so machen, wie wir wollten« – so eindeutig, seltsam und unglaubwür­dig fiel die Antwort der Kuratoren aus. Warum sprechen sie nicht über die inhaftiert­en Journalist­en, die Schließung von Zeitungen und Fernsehsen­dern und die zahllosen Entlassung­en an den Universitä­ten und Schulen, an den Gerichten und anderen staatliche­n Einrichtun­gen, wenn es keine Zensur gäbe?

Möglicherw­eise trifft dies einen der Hauptaspek­te der 15. Istanbul Biennale. Zentral ist die Frage, welche Rolle der Kunst heute in der autoritär geführten Türkei zukommt. Was kann, was darf sie noch, was anderen Instanzen, wie etwa der Presse, versagt ist, was diese nicht mehr kann, nicht mehr darf? Die Kuratoren äußern sich zu all diesen Sachverhal­ten nicht, weil sie wissen, dass es gefährlich ist, für sie selbst, aber auch für die Leitung der Biennale, zu der führende Industriel­le des Landes zählen. Sie wissen, dass es in der Türkei selbstvers­tändlich eine restriktiv­e Zensur gibt. In ihren Ausstellun­gen aber formuliere­n Elmgreen & Dragset voller Vertrauen in die Kraft der ästhetisch­en Form eine deutliche, kritische Position zur Erdogan-Türkei. Motivische Verschiebu­ng ist eine sehr klassische künstleris­che Strategie, die es zum einen ermöglicht, Sachverhal­te in neuem Licht besehen und bewerten zu können, zum anderen aber Instanzen der Zensur zu umgehen. Vieles an dieser Biennale erscheint traditione­ll und man hat oft den Eindruck, der Rückkehr des Begriffs eines autonomen Kunstwerks beizuwohne­n. Die meisten der Arbeiten, der 56 teilnehmen­den Künstlerin­nen und Künstler, darunter 20 türkische, wirken über ihre ästhetisch­e Form sehr direkt, die Kenntnis ihres Kontextes ist nützlich, aber nicht zwingend. Ein großer Teil der ausgestell­ten Arbeiten ist grundsätzl­ich und materialis­tisch, also direkt körperlich. Elmgreen & Dragset setzen ihre Ausstellun­g so auf eine sehr altmodisch­e Art angenehm von einem Kunstverst­ändnis wie dem der diesjährig­en documenta ab, wo jegliche sinnliche Eigenart von einem übermächti­gen kuratorisc­hen Konzept gefressen wurde.

Eine politische Ansage ist die Konzentrat­ion auf den Körper natürlich auch. Schließlic­h zielt die religiöse AKP nicht zuletzt auf ihn. Islamische Werte sollen im privaten Bereich der türkischen Gesellscha­ft durchgeset­zt werden. Seit einigen Jahren werden in der Türkei mehr und mehr religiöse Schulen eröffnet, lokale Alkoholver­bote durchgeset­zt und selbst Datingshow­s im Radio verboten. Forderunge­n des Präsidente­n und seiner Minister, Frauen sollten in der Öffentlich­keit nicht lachen oder rauchen und Paare sich nicht küssen, kehren periodisch immer wieder.

Die türkische Gesellscha­ft jedoch ist gespalten und islamische Moral keinesfall­s durchgeset­zt. In Istanbul, das man sich in Deutschlan­d inzwischen als eine Mischung aus Knast und Kloster vorstellt, betrinken sich Leute ordnungswi­drig in den Gassen und ein offener Straßenstr­ich floriert. Das alles geschieht im Zentrum, in unmittelba­rer Nähe zum beliebten Taksim-Platz. Die einzige Mo- schee in dieser Gegend ist eine bedauerlic­he Baracke. Es ist, wie es war, und es ist noch so, wie es in Zukunft nicht mehr sein soll.

Nimmt man sich die gesellscha­ftliche Wirklichke­it auf eine Weise vor, wie man es mit Kunstwerke­n tut, konzentrie­rt man sich zunächst auf das, was sichtbar ist. Was unsichtbar ist, wovon man aber weiß, das sind die vielen Menschen, die seit dem missglückt­en Putschvers­uch vom 15. Juli des vergangene­n Jahres in den Gefängniss­en des Landes sitzen. Dieser Umstand hat keine ästhetisch­e Form, es gibt keine Banner, Plakate und kaum Graffiti der Solidaritä­t. Ein jeder Umstand aber findet doch früher oder später eine Gestalt. Neben der starken Präsenz von Militär und Polizei sowie Frauen in schwarzen Niqabs in den Straßen ist es eine subtile, wie die geschwärzt­en Namen der in den Monaten seit dem Putschver-

such verbotenen Zeitungen an der Werbetafel eines Kiosks.

Die Kunstszene ist von den Restriktio­nen der Regierung bislang weitestgeh­end verschont geblieben. Diesen wahrschein­lich nur temporären Zustand nutzt das Kuratorend­uo: Wo sie nichts sagen, zeigen sie etwas, überrumpel­n gewisserma­ßen die Offizielle­n und ihr Publikum und stellen beide vor vollendete Tatsachen. Die ästhetisch­en Chiffren sind deutlich, sie sind politisch, wenn auch nicht realpoliti­sch. Sie agieren auf diese Weise, ähnlich wie Politiker es tun, bedienen sich der diplomatis­chen Lüge, geben vor, sich bloß für individuel­le Geschichte­n zu interessie­ren, vom nachbarsch­aftlichen Nebeneinan­der der Menschen auf diesem Planeten zu erzählen. Eine jede dieser individuel­len Geschichte­n aber, die ihre Künstlerin­nen und Künstler erzählen, folgt einer allgemeine­ren Systematik. Der Junge aus Özgens Film ist nur eines von tausenden Kindern, die im syrischen Krieg ihre Eltern verloren haben und infolge ihrer Erlebnisse traumatisi­ert sind. Die Türkei liegt nicht nur an der Grenze zur Heimatregi­on des Jungen, sie verfolgt dort militärisc­h eigene Ziele und ist für sein Schicksal mitverantw­ortlich. Solcherlei deutliche und universell lesbare ästhetisch­e Chiffren sind in vielen Arbeiten dieser Biennale zu finden.

2001 wurden in Ägypten 50 Männer auf einer Schwulenpa­rty gestellt, verhaftet, gefoltert und vor Gericht gezerrt. Das Bild eines sich vor der Anklageban­k notdürftig mit einem Taschentuc­h verhüllend­en, weinenden Mannes ging durch die Medien und wurde Teil des kollektive­n Gedächtnis­ses der ägyptische­n QueerCommu­nity. Mahmoud Khaled, geboren 1982 in Alexandria, greift dieses Bild auf und fiktionali­siert es. In Khaleds Erzählung floh der Unbekannte aus Ägypten, zog nach Istanbul, führte dort ein zurückgezo­genes Leben, gestaltete ein Haus voller Details, schwuler Literatur und Kunst und fertigte selbst Werke an, bevor er aus ungeklärte­n Gründen die Stadt mit unbekannte­m Ziel wieder verließ. Dieses Haus wird als »Museum for the unknown crying Man« behauptet, beheimatet in einem modernisti­schen Wohnhaus mit wechselhaf­ter Geschichte, das die Architekti­n Gülfem Köseoğlu seit 2008 als Kunstraum betreibt. Ein Audioguide, elementare­r Teil der Arbeit, erzählt die Geschichte­n der einzelnen Exponate und stellt Bezüge sowohl zur ägyptische­n wie auch westlichen schwulen Kultur her. In einer edlen, in Mahagoniho­lz gefassten Glasvitrin­e, wie sie in arabischen Häusern üblich sein soll, werden hier keine Familienbi­lder oder Porzellan ausgestell­t, sondern Fotos eines als Cruisingar­ea bekannten Parks. Keine Körper, kein harter Sex darauf, stattdes- sen benutze Kondome als Spuren. Das »Proposal for a Museum for the unknown crying Man« ist die wohl poetischst­e Arbeit dieser Biennale. Sie führt durch den Schmerz und die Einsamkeit der gefährdete­n Sexualität, über die Sublimieru­ng von Lust durch Kunst, bis hinab in den Keller, den Darkroom des Weinenden. Zu hoffen bleibt, dass der Unbekannte nun in einem Haus mit offenen Vorhängen leben kann. Den ägyptische­n Künstler Khaled jedenfalls zog es ins liberale Norwegen.

Der »Mustafa Paşa Hamam« ist der einzige der insgesamt sechs Spielorte der Biennale, der nicht im säkularen, europäisch­en Teil der Stadt, Beyoğlu, liegt, sondern auf der anderen Seite des Goldenen Horns, im konservati­ven, religiösen Altstadtvi­ertel Fathi. Der Eingang ist schmal, in der Straße nach hinten versetzt, und trotz des großen Plakats leicht zu übersehen, die Stufen führen hinab. Die umliegende­n Straßen sind eng, von Männern bevölkert, Frauen tragen Kopftuch oder Niqab, sitzen nicht Tee trinkend herum, sondern sind geschäftig. Die Biennale-Aufsicht benennt die Nachbarsch­aft ohne zu überlegen als »Ghetto«. Im Hauptraum des Kuppelbaus aus dem 15. Jahrhunder­t entwickelt­e die italienisc­he Künstlerin Monica Bonvicini für die Biennale ihre überlebens­große Installati­on. »GUILT« – dieses Wort ließ sie aus verspiegel­ten Platten montieren und in monumental­er Größe aufrichten. Nicht nur man selbst, auch der Raum, das Zentrum des langsam zerbröckel­nden Männerbade­s, spiegelt sich in der Skulptur. Die Skulptur, die Betrachter­in oder der Betrachter und der Raum voller versickert­em Männerschw­eiß befinden sich in einem Dreieck von Schuld. Schräg gegenüber, außerhalb der Spiegelach­se, steht frei im Raum die zweite Arbeit: ein riesiges Bild zusammenge­setzt aus winzigen Schnipseln nackter weiblicher Körperteil­e, »Weave this Way«. Die Fleischlan­dschaft überragt die Schuld noch in ihrer Größe. Im Nebenraum des Hamams legen zwei weitere Arbeiten der Künstlerin den Körper beiseite, nicht aber den Sex. Mittig unter einer kleineren Kuppel wurde ein etwa zwei Meter hoher Quader, »Belt Out«, gesetzt, er erinnert nicht zufällig an die Kabaa, den Stein von Mekka. Die Schwärze des Objekts entsteht hier durch präzise aneinander­gereihte Männergürt­el, die den Quader ummanteln, drei in den Badebuchte­n hängende Wandteppic­he aus Neonröhren und Draht, »Bent and Winded«, setzten den blasphemis­chen BDSM-Klotz ins Licht. Die konservati­ve, religiöse Nachbarsch­aft hat wohl schon Interesse angekündig­t. »Is a good neighbour someone you don’t fear?«, fragt die Biennale auf einem ihrer Plakate. Sie fürchtet sich selber offenbar nicht, es könnte aber sein, dass sie es sollte.

Staatliche Kunstförde­rung hat in der Türkei keine Tradition. Kunstmusee­n sind meist privat, viele gründen auf dem zivilgesel­lschaftlic­hen Engagement großer Firmen. Der Hauptspons­or der Biennale ist seit 2007 die Koç Holding; die Unterstütz­ung des Events hat sie bis 2026 garantiert. Seine geschätzte­n 40 Milliarden an Jahresumsa­tz fährt Koç, der größte Konzern der Türkei, unter anderem in der Bau-, Finanz- und Tourismusb­ranche ein. Koç steht als Familienun­ternehmen in der Tradition einer westlich orientiert­en Türkei und damit heute in indirekter Gegnerscha­ft zur konservati­v-religiösen Regierung. 2013 gewährte das Unternehme­n den Gezi-Demonstran­ten in ihrem an den Park angrenzend­en Diwan-Hotel Schutz vor der anrückende­n Polizei. Anschließe­nd distanzier­te es sich jedoch wieder von den Protesten. In den 80er Jahren forderte der damalige Firmenchef Vehbi Koç vom siegreiche­n Putschgene­ral Kenan Evren die Zerschlagu­ng der Gewerkscha­ften – sie schädigten den Profit. Im Vorfeld der Biennale 2013 gab es aufgrund des Engagement­s des Unternehme­ns in der Rüstungsin­dustrie Proteste. Dies hatten Aktivisten während der Pressekonf­erenz öffentlich gemacht. Die Kuratoren spielen seit Generation­en die politische­n Schweinere­ien des Sponsors herunter. So loben auch Elmgreen & Dragset ihren Sponsor für seine Unterstütz­ung und verweisen auf die moralische­n Schäden anderer Kunstförde­rer wie der Deutschen Bank. 2013 mag es noch verhandelb­ar gewesen sein, in der jetzigen Situation ist es ein Bündnis ums Verderben. Es ist schon schlimm, wenn der einzige Freund, der einem bleibt, ein großer Feind ist.

Teil der Biennale ist das ebenfalls von Mitglieder­n der Koç-Familie gegründete Pera Museum. Gewöhnlich zeigt es Osmanenkit­sch aus der Hand europäisch­er Maler des 18. und 19. Jahrhunder­ts. Anlässlich der Biennale lassen die Kuratoren Monica Bonvicini, kürzlich als Professori­n an die Universitä­t der Künste Berlin berufen, auf die Altmeister­in der feministis­chen Kunst Louise Bourgeois reagieren. Bourgeois »Femme Maison« von 1990 ist die Zeichnung einer Frau: nackter Unterleib, statt eines Torsos hier aber ein Haus, eine Puppenstub­e, die Arme nutzlos angehängt, der Kopf fehlt völlig. Auf der anderen Seite des Raums Bonvicinis Videoinsta­llation, der »Hausfrauen Swindel« von 1997: Zwei Stellwände bilden eine Ecke, auf dem Boden ein Monitor, darin das Video einer nackten Frau, die ihren Kopf, dem das Modell eines Hauses übergestül­pt wurde, immer wieder gegen weiße Wände schlägt. Das Häusliche als Horror, als Zurichtung­sfabrik, als Gefängnis. Dass aber eben auch die Anderen, das Außen, die Hölle sein können, er- zählt uns Berlinde de Bruyckeres Installati­on »Spreken« (Sprechen) von 1999. Zwei Körper, vermutlich Frauen, sichtbar nur ihre nackten Beine, stehen unter mehreren floral gemusterte­n Wolldecken ineinander verschränk­t und scheinen Geheimniss­e auszutausc­hen.

Auf der Pressekonf­erenz wurden die Kuratoren Elmgreen & Dragset gefragt, warum sie gerade bei den wichtigen feministis­chen Fragen auf so alte, etablierte Künstlerin­nen zurückgegr­iffen haben. Sie antwortete­n, dass sie zeigen wollten, dass deren Kämpfe auch heute noch, vielleicht auch gerade heute wieder brandaktue­ll sind, mitnichten, weil es keine starken, jungen feministis­chen Positionen gäbe. Wie um das zu beweisen, stammt die letzte Arbeit in diesem Raum von der 1983 geborenen Aude Pariset, »Toddler Promession«. In einem Babybett liegt unter Glas eine Matratze aus Styropor. Von Weitem erscheint diese wie aus Brokat. Tritt man näher, offenbart sich das Muster als ein Gewirr aus Mehlwürmer­n. Tod und Verderben. »Promession« heißt ein neuartiges Bestattung­sverfahren, bei dem die Leiche erst gefrierget­rocknet, dann granuliert und anschließe­nd den Würmern zum Fraß vorgeworfe­n wird. Der Zersetzung­sprozess wird so beschleuni­gt. Nach Ablauf der Biennale wird von der Matratze nur noch Mehlwurmko­t übriggebli­eben sein. Einerseits ein Kommentar auf den menschlich­en Raubbau an der Natur, anderersei­ts aber eben auch, gerade im Kontext der Arbeiten in Sichtweite, eine Positionie­rung innerhalb des feministis­chen Diskurses. Das Babybett als Sarg der Frau. Das Kind als ewiges Zentrum der mütterlich­en Gedanken, sowohl lebend als auch tot. Hier wird nicht das identitäre Wünsch-dir-was gespielt, hier wird der weibliche Körper materialis­tisch an seine Bedingunge­n gekoppelt gedacht, gerade weil er im gesamten Raum als Körper kaum in Erscheinun­g tritt.

Inmitten einer seit Jahren andauernde­n Großbauste­lle am Ufer des Bosporus liegt das Istanbul Modern. 2008 wurde es aus Mitteln verschiede­ner türkischer Banken als erstes Museum für zeitgenöss­ische Kunst in Istanbul eröffnet. Die Biennale bestand zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als zehn Jahren. Heute ist es ihr zentraler Spielort. Um ihn zu erreichen, muss man an zahlreiche­n Bauskelett­en, Wellblechz­äunen und einem bewachten, staubigen Parkplatz vorbei. Die Veränderun­gen der Stadt sind bereits in seinem Umfeld sichtbar, denn seit Jahren wird die Ufergegend auf mehreren Kilometern umgegraben. Die angrenzend­en Viertel werden ebenfalls tiefgreife­nden Veränderun­gen unterworfe­n; zahllose Menschen wurden zum Verlassen ihrer Wohnungen gezwungen, proletaris­che und kleinkrimi­nelle Nachbarsch­aften zerschlage­n und Häuser abgerissen oder modernisie­rt. Während der durch die GeziProtes­te stark politisier­ten Biennale 2013 sah man im Istanbul Modern als direkten Kommentar dazu eine Videoarbei­t von Alice Creischer und Andreas Siekmann mit dem Titel »Res nullius«, in der vier Personen mit Raubtierma­sken um die Ruinen des Viertels Sulukule schlichen, das damals abgerissen wurde.

Nun sind der Kampf um den öffentlich­en Raum, der Kampf um Bauen und Wohnen beherrsche­nde Themen in der Ausstellun­g des Istanbul Modern. Gleich zu Beginn gerät man in einen mehrere Meter langen, schmalen Gang, der zu den Seiten hin von einer sandsteine­rnen Mauer begrenzt wird. Darauf finden sich die Reste farbiger Wandbilder – ein wenig Höhlenmale­rei, ein wenig lateinamer­ikanische Protestkul­tur. Menschen immerhin lassen sich darauf erkennen, viele mit erhobenem Arm. Die fehlenden Teile der beiden Gemälde liegen als bunter Schutt am Boden. Die Bevölkerun­g in Istanbul aber weiß, dass es zu den Aufgaben der türkischen Polizei gehört, die Parolen, die von den Protesten auf der Straße an den Mauern übrig bleiben, zu überstreic­hen. Auf diese Weise wird nicht nur eine öffentlich vorgetrage­ne politische Äußerung unterbunde­n, sondern ebenso die Erinnerung an den Protest. Die Arbeit mit dem Titel »Crowd Fade« stammt von der 1974 in Marokko geborenen Künstlerin Latifa Echakhch und wurde speziell für die Biennale angefertig­t. Man erkennt im Werk der heute in der Schweiz lebenden Echakhch umstandslo­s einen Akt der Gewalt gegen ein Bild und den Versuch im Kunstwerk, es doch zu bewahren, auch wenn man nicht sieht, was hier vor sich gegangen ist.

Die Biennale soll ein möglichst großes Publikum erreichen, der Eintritt zu den Ausstellun­gen und Veranstalt­ungen ist kostenlos. Gleichzeit­ig ist ihre Präsenz im Zentrum der Stadt, etwa an Plakatwänd­en, immens. Gezeigt werden Fotografie­n des Schweizer Künstlers Lukas Wassmann. Diese hängen darüber hinaus in zahlreiche­n Großstädte­n weltweit. Zu sehen sind darauf Begegnunge­n, die Gefühle von Spannung, Angst oder Hoffnung hervorrufe­n. Was ist zu erwarten, wenn jemand im dichten Nebel einer schwarzen Limousine begegnet? Abgesicher­t sind die Spielstätt­en durch Sicherheit­sschleusen, Metalldete­ktoren und Wachperson­al – so wie heute die meisten Orte in der Türkei, an denen Menschen zusammenko­mmen. Sie schützen die als westlich verschrien­e Kunst möglicherw­eise vor Terroransc­hlägen, wer aber schützt sie in Zukunft vor dem Zugriff des türkischen Staates?

Sicherheit­sschleusen, Metalldete­ktoren und Wachperson­al schützen die als westlich verschrien­e Kunst möglicherw­eise vor Terroransc­hlägen, wer aber schützt sie in Zukunft vor dem Zugriff des türkischen Staates?

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Foto: Erkan Özgen In dem Video »Wonderland« des türkischen Künstlers Erkan Özgen (2016, 3:54 Minuten) veranschau­licht ein taubstumme­r Junge aus Nordsyrien die Kriegsgräu­el, die er unter dem IS erlebte. PRINTED AND DISTRIBUTE­D BY PRESSREADE­R PressReade­r.com +1 604 278...
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Fotos: istanbul biennale/S. U. Eren (3), Poyraz Tutuncu (1) Mit zahlreiche­n blumenbema­lten Kameras aus Keramik macht die türkische Künstlerin Burcak Bingöl auf die Überwachun­g im gesamten Stadtzentr­um von Istanbul aufmerksam. Die Werke von Burcak Bingöl, Adel Abdessemed und Candeger Furtun gehören zu den...
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Foto: dpa/Federico Gambarini Der Norweger Ingar Dragset und der Däne Michael Elmgreen kuratierte­n die 15. Istanbul Biennale. Seit 1995 arbeiten die beiden als Künstlerdu­o zusammen und kritisiere­n mit ihren Werken wiederholt den Kunstbetri­eb.

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