Und wenn sie noch so links sind
Separatistische Bewegungen weisen nicht den Weg zu europäischem Sozialismus.
Am 1. Oktober soll in Katalonien über die Unabhängigkeit abgestimmt werden. Ein Referendum, wie es die schottische Bevölkerung schon hinter sich gebracht hat – mit negativem Ausgang. In beiden Fällen haben wir es nicht mit klassisch rechtem Nationalismus zu tun. Schotten und Katalonier scheinen anders zu ticken: Sie wehren sich gegen rechte Regierungen, ihre Parteien sind sozialdemokratisch wie die Scottish Nationalist Party oder stehen noch weiter links wie die Katalanische CUP. Ist der Nationalismus eine linke Perspektive für Europa?
Zu Zeiten von Marx und Engels konnte die Linke diese Frage noch mit »Ja« beantworten. In der Revolution von 1848 kämpften Ungarn, Kroaten und Deutschösterreicher gegen die Habsburger-Monarchie, die sie zugunsten demokratischer Nationalstaaten sprengen wollten. In Deutschland tat zur gleichen Zeit eine Arbeiterbewegung ihre ersten Schritte, forderte neben sozialen Zielen eine deutsche Republik gegen Monarchie und Kleinstaaterei. Doch beide Bewegungen scheiterten, am Ende stand 1871 ein autoritärer Nationalstaat in Deutschland, während die Habsburger ihr Imperium Österreich-Ungarn behielten. Ergebnis war, dass die österreichische Linke als eine der ersten in Europa ein Programm für einen Multinationalen Sozialismus formulierte.
Das »Hainfelder Programm« der Sozialdemokratie forderte 1889 einen »demokratischen Nationalitätenbundesstaat«, mit einer noch festzulegenden »Vermittlungssprache« und ansonsten Autonomie in den jeweiligen Teilstaaten. Otto Bauer konkretisierte das Programm 1907 in seiner Schrift »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie«. Auch er trat für »national-kulturelle Autonomie« ein und wollte den Habsburgerstaat erhalten. Nationaler Separatismus galt als rückschrittlich, die Kleinstaaten des Imperiums als ökonomisch nicht lebensfähig. Die österreichisch-ungarische Sozialdemokratie konnte damit trotz interner Spannungen integrieren – sie war die einzige transnationale Partei des Habsburgerstaates.
Ähnlich sah es Rosa Luxemburg, die das russische Imperium sozialistisch wenden wollte. Sie brachte sich damit in Opposition zu den national orientierten polnischen Sozialisten und gründete 1893 ihre eigene Partei. Denn die Kosmopolitin Luxemburg sah im Nationalismus keine linke Perspektive. Sie lehnte nicht nur den polnischen Linksnationalismus ab, sondern wie viele sozialistische Juden auch den Zionismus als jüdische Nationalbewegung. Ihr Ideal war ein transnationaler Sozialismus, der anders als der Zarismus Minderheitenrechte gesetzlich schützen, aber durch soziale Gleichheit nationaler Diskriminierung und antisemitischen Pogromen gleichermaßen die Grundlage entziehen sollte.
Darüber lieferte sie sich heftige Wortschlachten mit Lenin, der zwar in der Sache ähnlicher Meinung war, aber als revolutionärer Stratege den Nationalbewegungen das Angebot auf Loslösung machte – sie sollten selbst entscheiden. Neuere Forschungen zeigen, wie Lenin und die Bolschewiki diese Position in Auseinandersetzung mit nationalen Minderheiten von Finnland bis Aserbaidschan erst langsam entwickelten. Denn überall im russischen Imperium bestanden unterdrückte Nationalitäten darauf, nicht mehr als Menschen zweiter Klasse zu gelten. Nach der Oktoberrevolution wurde diese Politik zunächst umgesetzt: Finnland erhielt die Unabhängigkeit, alle anderen Sowjetrepubliken weitreichende Autonomie. Eine Nationalhymne gab es nicht mehr, die Geldscheine der jungen Sowjetunion waren mit russischen, arabischen und chinesischen Schriftzeichen bedruckt – ein Anti-Nationalstaat. Eingeschränkt wurde das Experiment jedoch schon 1921: Erstens durch die Unterdrückung der anarchistischen MachnoBewegung in der Ukraine, zweitens durch die russische Invasion in Georgien, wo die Menschewiki regier-
ten. In der verschärften Lage des Bürgerkriegs war Lenin nicht mehr bereit, nationale Autonomie auch da zu gewähren, wo sie politischen Rivalen zu Gute kommen mochte.
Dies mag auch ein Ergebnis des Versailler Vertrags gewesen sein. Er beruht auf dem bürgerlichen Gegenprogramm zum Sowjet-Experiment: Schon früh setzte US-Präsident Woodrow Wilson mit seinen 14 Punkten auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« und brachte Lenins Versprechen gegen ihn in Stellung. Sein Ziel war nicht Unabhängigkeit als republikanischer oder gar sozialistischer Freiraum, sondern ein Puffergürtel aus bürgerlichen Nationalstaaten gegen die Sowjetunion. Mit der Unabhängigkeit von Finnland, Polen und den baltischen Staaten erreichte Wilson dieses Ziel.
Die Beseitigung dieses Puffergürtels erfolgte mit dem Hitler-StalinPakt 1939 – die Sowjetunion war vom transnationalen sozialistischen Experiment zur Fortsetzung eines großrussischen Chauvinismus herabgesunken. Die kulturelle Reaktion folgte, 1941 wurde statt der »Internationale« wieder eine Nationalhymne gesungen, die Multinationalität des Sowjetstaates beschränkte sich auf staatlich gelenkte Folklore. »Verdächtige« Nationalitäten, wie etwa die Wolgadeutschen oder die Krimtataren, wurden mit Massendeportationen gestraft – ethnische Säuberung wurde zum Mittel der Politik.
Das Regime des Stalinismus bedeutete den Abschied vom linken Transnationalismus. Denn dieser, das hatte die österreichische Sozialdemokratie schon früh erkannt, war nur in einem demokratischen Staat möglich. Ein autoritärer Staat dagegen hatte keine zivilgesellschaftlichen Räume, um ethnische Konflikte sichtbar zu machen und Kompromisse zu finden. Obwohl mit dem Internationalismus der 1930er Jahre kommunistische Parteien mehr als jede an-
dere Kraft zur Dekolonisierung beitrugen – Debatten über transnationalen Sozialismus wurden nicht mehr geführt. Dies führte einerseits zur Unterschätzung des Antisemitismus vor 1933. Aber auch nach 1945 wurden Aushandlungsprozesse nationaler Minderheiten und Mehrheiten nicht geführt, Gewaltakte wie die West- verschiebung Polens »lösten« nationale Spannungen. Nationale Konflikte im Sozialismus durften nun über Jahrzehnte nicht thematisiert werden. In Polen und Tschechien aus berechtigter Angst vor deutschem Revanchismus. In Jugoslawien dagegen aus Angst vor Instabilität, in den nationalen Befreiungsbewegungen Afrikas aus Angst vor einem Bruch der antiimperialistischen Einheitsfront.
Sichtbar wurden diese Probleme erst 1991, als die Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien auseinanderfielen – die nationalen Widersprüche waren im Sozialismus nie gelöst, sondern nur verdrängt worden. Ebenso verdrängt waren die Debatten und Experimente sozialistischer Multinationalität vor 1917.
Über das sowjetische Experiment siegte nun erneut Woodrow Wilsons »Selbstbestimmungsrecht der Völker«. Lettland, Estland, Litauen wurden unabhängig und stießen dann gemeinsam in die Europäische Union. »Europa« galt in den 1990er Jahren als das multinationale Friedensprojekt schlechthin. Erst seit Währungsunion und Eurokrise wird sichtbar, dass es sich mit der heutigen EU um eine reine Freihandelszone handelt – ein Suprastaat ohne vermittelnde politische Institutionen, die sowohl transnational arbeiten als auch demokratisch legitimiert sind. Ohne politisches Europa bleibt uns eine EU, in der das Kapital alle Freiheiten genießt, die Lohnabhängigen jedoch außer der Freiheit, sich europaweit zu verkaufen, keine sozialen Rechte verwirklicht haben. Es gibt keinen europäischen Mindestlohn, keine europäische Krankenversicherung, keine europäische Rentenversicherung, keinen EU-Sozialstaat. Auch politisch setzt sich in diesem Markt-Europa die stärkste Kraft durch – die EU ist ein Deutsch-Europa, wie die Disziplinierung der SYRIZA-Regierung durch Wolfgang Schäuble zeigte.
Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sich neben rechtem Populismus auch eine linke Europakritik breit macht, verkörpert etwa durch eine nicht zu unterschätzende Minderheit linker Brexit-Befürworter. Viele deutsche Linke sympathisieren damit wie mit dem katalanischen oder schottischen Separatismus. Sie fänden sowohl bei Lenin als auch bei der 1848er Revolution den einen oder ande- ren Hinweis darauf, dass nationale Selbstbestimmung ein demokratisches Recht ist.
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass nationaler Separatismus zwar einige Republiken, jedoch noch nie sozialistisches Gemeinwesen hervorgebracht hat. Die Auflösung der Sowjetunion endete im oligarchischen Kapitalismus, die nationalen Befreiungsbewegungen der dritten Welt wurden schnell von kapitalistischen Eliten gekapert, und auch heute ist der chauvinistische Populismus des Brexit die Norm und nicht die Katalanische Linke. Separatismus basiert auf der Motivation, ohne »die Anderen« besser dran zu sein. Dies hat eine gewisse Legitimation, wenn die Interessen einer nationalen Minderheit mit Füßen getreten werden – dies ist der Fall im spanischen Zentralismus, wie sowohl die Ablehnung des fertig verhandelten Autonomiestatuts von 2010 als auch die aktuelle Repression gegen das Referendum zeigen.
Eine Perspektive für die Europäische Linke ist dieser Separatismus jedoch nicht. Auch wenn Linke das Recht der Katalanen auf ein Referendum verteidigen sollten – der Separatismus bleibt im Partikularen, er sucht Antworten in Barcelona, nicht in Brüssel, und hat schon den Andalusiern nichts mehr zu sagen außer »Tschüss«. Er drückt sich um die brennende Frage, die die deutsche und spanische Linke verbindet: Wie kann ein europäischer Sozialismus aussehen? Angesichts der nationalen Polarisierungen vor 1914 forderten Otto Bauer, Lenin und Rosa Luxemburg einen transnationalen Sozialismus, nicht die sozialistische Nation. Im Zeitalter der Globalisierung sollte die Linke nicht hinter diese Debatten zurückfallen. Das Europa souveräner Nationalstaaten war 1848 ein Fortschritt – für die Linke des 21. Jahrhunderts ist es ein Auslaufmodell.
Das Regime des Stalinismus bedeutete den Abschied vom linken Transnationalismus. Denn dieser, das hatte die österreichische Sozialdemokratie schon früh erkannt, war nur in einem demokratischen Staat möglich. Ein autoritärer Staat dagegen hatte keine zivilgesellschaftlichen Räume, um ethnische Konflikte sichtbar zu machen und Kompromisse zu finden.