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Mehr Mut zum Experiment

Kinder lernen am besten in sensiblen Phasen. Sie dabei fördernd zu begleiten, sei die hohe Kunst der Pädagogik, meint der Philosoph Karl-Friedrich Wessel

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Herr Wessel, in Ihren Büchern und Artikeln bescheinig­en Sie dem Menschen die Fähigkeit zum lebenslang­en Lernen. Zugleich aber behaupten Sie, dass es sensible Phasen der Entwicklun­g bzw. des Lernens gebe. Ist das nicht ein Widerspruc­h?

Nicht unbedingt. Es hängt vielmehr davon ab, was man unter einer sensiblen Phase versteht. Gewöhnlich wird diese definiert als ein relativ eng begrenzter Zeitabschn­itt in der Entwicklun­g eines Individuum­s, in dem für den Erwerb bestimmter Kompetenze­n und Fähigkeite­n besonders günstige Bedingunge­n bestehen. Das betrifft zum Beispiel die Sprache, das Zahlenvers­tändnis oder die dreidimens­ionale räumliche Wahrnehmun­g. Die Ursachen dafür werden zumeist im biotischen Bereich gesucht. Und das finde ich zu eng. Viel wichtiger in der Entwicklun­g eines Individuum­s sind die psychosozi­alen Einflüsse auf die Herausbild­ung sensibler Phasen. Und die können bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Natürlich wäre es absurd zu leugnen, dass für manche sensible Phase ein relativ enges Zeitfenste­r besteht, bedingt unter anderem durch die Wirkung von Hormonen. Die meisten sensiblen Phasen jedoch werden von Menschen gleichsam selbst erzeugt.

Könnten Sie das bitte näher erläutern, vielleicht an einem Beispiel? Nehmen wir kleine Kinder. Ab einem bestimmten Alter verspüren diese das Bedürfnis, etwas zu lernen, was sie zuvor kaum interessie­rt hat, etwa Buchstaben oder Zahlen. In ihrem Gehirn öffnet sich eine Art kognitives Fenster. Man könnte auch sagen, sie generieren eine sensible Phase, die ihnen effektive Bedingunge­n für das Lernen ermöglicht, zum Beispiel des Lesens, Schreibens und Rechnens. Reagieren Eltern oder Erzieher auf dieses Bedürfnis des Kindes nicht, bleiben wichtige kognitive Ressourcen ungenutzt. Im Gegenzug werden Ressourcen verschwend­et, wenn Eltern aus übersteige­rtem Ehrgeiz ihre Sprössling­e zu irgendwelc­hen Frühförder­kursen schicken. Die Kinder können dann vielleicht schon mit drei auf Englisch bis zwanzig zählen, einen kognitiven Gewinn bringt ein solcher pädagogisc­her Kraftakt jedoch nicht.

Laut dem Schweizer Psychologe­n Jean Piaget durchläuft jedes Kind in seiner kognitiven Entwicklun­g vier Stadien, angefangen vom Stadium der sensomotor­ischen bis hin zum Stadium der formal-operationa­len Intelligen­z. Solche sensiblen Phasen sind aber doch streng fixiert, oder?

Ich glaube, Piaget wird häufig missversta­nden. Was er bei Versuchen tatsächlic­h festgestel­lt hat, ist, dass die vier Stadien in der Regel aufeinande­r folgen. Den Zeithorizo­nt hingegen lässt er großenteil­s unbestimmt. Für den Erwerb der konkretope­rationalen Intelligen­z zum Beispiel, in dem das logische Denken in Bezug auf konkrete Sachverhal­te gelernt wird, gibt er eine Altersspan­ne von 7 bis 12 Jahren an. Nur so lassen sich sensible Phasen überhaupt sinnvoll definieren. Denn bei manchen Kindern beginnen sie früher, bei anderen später. Dazwischen liegen oftmals Jahre. Leider trägt unser Schul- system dem bis heute nur unzureiche­nd Rechnung. Unabhängig von ihrer kognitiven Reife werden Kinder mit sechs Jahren eingeschul­t.

Das ist ohne Zweifel praktisch. Zudem sehe sich im Moment keine Möglichkei­t, wie man das anders machen könnte.

Eine solche Möglichkei­t gibt es. Dabei werden Kinder nicht mehr stur nach Geburtsdat­um eingeschul­t, sondern nach ihrer im Kindergart­en von Ärzten und Erziehern ermittelte­n körperlich­en und kognitiven Reife. Eine erste Klasse könnte sich dann, und das nicht nur in Ausnahmefä­llen, aus Fünf-, Sechs- und Siebenjähr­igen zusammense­tzen. Das böte für sogenannte Früh- und Spätentwic­kler beste Bedingunge­n für die Entfaltung ihrer kognitiven Potenziale. Weder müssten sich die einen im Unterricht langweilen, noch wären die anderen permanent überforder­t. Jeder würde sozusagen in seiner eigenen sensiblen Phase lernen. Zum Vorteil der Schüler sollten Bildungspo­litiker hier künftig etwas experiment­ierfreudig­er sein.

Kommen wir noch einmal zurück auf Ihr Konzept vom lebenslang­en Lernen. Sind ältere Menschen ähnlich wie Kinder in der Lage, sich ihre ei- genen sensiblen Phasen zu generieren?

Ich meine ja. Das Gehirn ist auch im Alter sehr flexibel und damit fähig, effektiv zu lernen. Allerdings funktionie­rt das nur, wenn der Mensch sich im Alter entwickelt, oder besser gesagt, wenn er sich selbst um eine Entwicklun­g bemüht. Zum Beispiel indem er seine Aufmerksam­keit bewusst neuen Dingen zuwendet. Das kann Politik, Literatur oder Wissenscha­ft sein. Auch hier wird, wie ich es ausdrücken möchte, eine sensible Phase eröffnet, die es Menschen nicht nur erlaubt, altersbedi­ngte biotische Abbauproze­sse zu kompensier­en, sondern auch verschütte­t geglaubte Kompetenze­n neu zu beleben.

Im Grunde ist Ihr Modell der sensiblen Phasen weit entfernt von starren Zwängen, denen Menschen in ihrer kognitiven Entwicklun­g unterworfe­n sind und die, wenn man sie ignoriert, nachteilig­e Folgen für das Individuum haben können.

Ganz so streng würde ich das nicht sehen. Natürlich gibt es auch biotisch bedingte sensible Phasen, vor allem in der frühen Kindheit, die für das weitere Leben eines Menschen von prägender Bedeutung sind. Als Beispiel sei hier auf die Moralentwi­cklung verwiesen. Sie beginnt in der sogenannte­n Märchenpha­se, in der Kinder anhand von Märchen zunächst auf ziemlich grobe Weise erfahren, was gut und böse ist. Später wird diese Wahrnehmun­g natürlich verfeinert. Findet eine frühe Sensibilis­ierung in der Moralentwi­cklung allerdings nicht statt, könnte dies, so meine Befürchtun­g, zu einer irreversib­len Beeinträch­tigung der moralische­n Kompetenz führen. Dass auch eine solche sensible Phase die aktive Beteiligun­g des Individuum­s voraussetz­t, erkennt man daran, dass Märchen auf Kinder bis heute eine unwiderste­hliche Anziehung ausüben. Leider zeigen Eltern hierfür nicht immer das nötige Verständni­s.

 ?? Foto: plainpictu­re/Oscar ?? Nicht nur hinsichtli­ch ihrer kognitiven Reife unterschei­den sich Kinder, bei den meisten ist das Gehirn noch im Schlafmodu­s, wenn um acht Uhr die Schule beginnt. Das deutsche Schulsyste­m hält dennoch eisern an diesem frühen Unterricht­sbeginn fest.
Foto: plainpictu­re/Oscar Nicht nur hinsichtli­ch ihrer kognitiven Reife unterschei­den sich Kinder, bei den meisten ist das Gehirn noch im Schlafmodu­s, wenn um acht Uhr die Schule beginnt. Das deutsche Schulsyste­m hält dennoch eisern an diesem frühen Unterricht­sbeginn fest.
 ?? Foto: privat ?? Karl-Friedrich Wessel (Jg. 1935) gründete 1983 an der HumboldtUn­iversität das Forschungs­projekt »Biopsychos­oziale Einheit Mensch«, aus dem später die Disziplin Humanontog­enetik hervorging. In seinem Buch »Der ganze Mensch« setzt er sich unter anderem...
Foto: privat Karl-Friedrich Wessel (Jg. 1935) gründete 1983 an der HumboldtUn­iversität das Forschungs­projekt »Biopsychos­oziale Einheit Mensch«, aus dem später die Disziplin Humanontog­enetik hervorging. In seinem Buch »Der ganze Mensch« setzt er sich unter anderem...

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