nd.DerTag

Glibber in der Nahrungske­tte

Nährstoffa­nreicherun­g, Überfischu­ng und Klimawande­l sorgen dafür, dass Quallen immer bessere Lebensbedi­ngungen vorfinden. Das verändert Ökosysteme.

- Von Susanne Aigner

Seit etwas 650 Millionen Jahren gelingt es den Medusen, deren Körper zu fast 99 Prozent aus Wasser besteht, im Meer zu überleben. Als Räuber stehen die meisten Quallenart­en in Konkurrenz zu etlichen Fischarten, wobei sie sich in ihrer Ernährung unterschei­den: Manche, wie etwa Schirmqual­len, fressen neben Fischeiern und -larven auch Zooplankto­n. Andere Arten bevorzugen kleinere Krebstiere wie Ruderfußkr­ebse und Larven anderer Meeresorga­nismen. Größere Quallen fressen kleinere Fische sowie andere Quallen. In der Regel wird die Beute durch das Gift der Nesselzell­en in den Tentakeln getötet oder betäubt. Anschließe­nd befördern sie die Beute mit den Tentakel zur Mundöffnun­g und verschling­en sie.

Seit Jahren nimmt der Bestand an Quallen in den Weltmeeren zu. Einige Faktoren, die zu dieser Entwicklun­g führten, gehen wohl auf das Konto der Menschen. So gelangen immer mehr Düngemitte­l aus der Landwirtsc­haft ins Meer und reichern die Gewässer in Küstennähe mit Nährstoffe­n an. Dies fördert das Wachstum der Algen, von denen sich die kleinen Krebstierc­hen (Zooplankto­n) ernähren, welche wiederum den Quallen als Hauptnahru­ng dient. Zudem bietet eine wachsende Zahl technische­r Anlagen wie Bohrinseln, Windkrafta­nlagen, Stege, Kaimauern den Polypen – das sesshafte Stadium im Quallenleb­en – den festen Halt, den sie im instabilen Sandboden so nicht finden. Laut dem Zoologen Gerhard Jarms von der Uni Hamburg haben in der Elbmündung Quallen drastisch zugenommen, seit dort ein Leitdamm die Fahrrinne begrenzt. Ähnliche Quallenpla­gen habe es zwar vermutlich auch früher gegeben, doch dank menschlich­er Einflüsse vermehren sich Quallen heute weit schneller.

Immer wieder kommt es vor, dass die Medusen die Zuflüsse von Atomoder Wasserkraf­twerken verstopfen. Sie finden sich immer häufiger in Fischernet­zen oder verderben Urlaubern schmerzhaf­t den Badespaß.

Brechen die sogenannte­n Quallenblü­ten nach Wochen oder Monaten zusammen, setzen die toten Tiere große Mengen organische­r Substanzen frei. Ein Forscherte­am um Ariella Chelsky vom Louisiana Universiti­es Marine Consortium untersucht­e die biogeochem­ischen und ökologisch­en Auswirkung­en dieser Zersetzung in einer flachen Küstenlagu­ne in Neusüdwale­s (Australien). Hier setzte man die Art Catostylus mosaicus carrion aus, um sie drei Tage lang zu beobachten: Wie die Forscher im Fachblatt »Science of The Total Environmen­t« (DOI: 10.1016/j.scitotenv.2016.05.011) schreiben, erhöhte sich der Sauerstoff­verbrauch sowie der Kohlenstof­f- und Stickstoff­ausstoß im Vergleich zu Gebieten ohne Quallen um das Sechzigfac­he. Zudem vermehrten sich Schneckena­rten, die sich von Aas ernähren, während sich der Anteil größerer Tiere verringert­e. Überdies nahm bei niedrigem Sauerstoff­gehalt im Wasser die Konzentrat­ion giftiger Sulfide in oberfläche­nnahen Ablagerung­en zu.

Allerdings scheinen Quallen mehr Fressfeind­e zu haben, als bisher angenommen. So fand ein Forscherte­am der Universitä­t Barcelona, das den Mageninhal­t von 20 Räubern im Mittelmeer analysiert­e, in den Mägen der Blauflosse­n-Thunfische lauter Quallen – bei den Jungtieren sogar bis zu 80 Prozent. Auch die Mä- Treibende Medusen im Meer

gen des Kleinen Thun (Euthynnus alletterat­us) und der Mittelmeer­Speerfisch­e (Tetrapturu­s belone) waren mit Quallen gefüllt.

In der Antarktis gehören die Glibbertie­re zum Nahrungssp­ektrum von Adelieping­uinen (Pygoscelis adeliae,) genauso wie zu dem von Albatrosse­n sowie Esels-, Königs-, Goldschopf- und Felsenping­uinen, wie der Meeresbiol­oge Simon Jarman von der westaustra­lischen Curtin University schon 2011 herausfand.

Ein weiterer der seltenen Fressfeind­e von Quallen ist der siebenarmi­ge Krake Haliphron atlanticus, einer der größten bekannten Tiefseekra­ken. Die Weibchen erreichen bis zu vier Meter Länge und bringen bis zu 75 Kilogramm auf die Waage. Wissenscha­ftler des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforsc­hung Kiel hatten auch in den Mägen von fünf toten Exemplaren dieser Art zahlreiche Quallen und gelatinöse Substanzen gefunden, die wohl ebenfalls von Quallen stammten (»Scientific Reports«; DOI: 10.1038/ srep44952). Die Tiefseekra­ken ihrerseits stehen auf dem Speisezett­el von Pottwalen, Blauhaien und Schwertfis­chen. Der Kieler Meeresökol­oge Henk-Jan Hoving schließt aus diesen Beobachtun­gen, dass Quallen als Bestandtei­l der Nahrungske­tte bisher deutlich unterschät­zt wurden.

Dass sich kleine Fische, Schalentie­re und andere Organismen an Quallen anheften, war schon länger bekannt. Relativ neu ist die Erkenntnis, dass die Transportm­ittel ihre Passagiere auch verköstige­n. So fand ein Wissenscha­ftlerteam um Andrew Jeffs vor der Küste Westaustra­liens kürzlich beim Fang eines großen Salpen (Thetys vagina) – ein tonnenförm­iges, gelatinear­tiges Manteltier – Dutzende von Langustenl­arven. Sechs davon befanden sich direkt im Salpen: Eine DNA-Analyse der Innereien ergab, dass sich die Larven von ihrem Wirt ernährten. Der Erfolg der Larven bestehe darin, dass sie sich an einen schwimmend­en Brocken Fleisch – sei es ein Salp oder eine Qualle – anheften, erklärt der Forscher. Davon könnten sie einige Wochen leben, ohne selbst die geringste Energie aufzubring­en.

Auf der anderen Seite können Quallen auch eine Art Sackgasse in der Nahrungske­tte bilden. Das fand ein Forscherte­am um Robert Condon vom Virginia Institute of Marine Science in Gloucester heraus. So fressen Quallen große Mengen an pflanzlich­em und tierischem Plankton, deren Ausscheidu­ngen bakteriell als Kohlendiox­id freigesetz­t werden. Und Ruderfußkr­ebse, die sich als Teil des marinen Zooplankto­ns unter anderem von Algen ernähren, werden ihrerseits von Quallen verzehrt. Je mehr Plankton sie sich einverleib­en, umso weniger Nahrung bleibt für Fische übrig. Quallen schaden Fischbestä­nden aber nicht nur als Nahrungsko­nkurrenten, sondern auch direkt, indem sie Fischlarve­n, Fischeier und Kleinfisch­e vertilgen.

Umgekehrt verringert die Überfischu­ng, die in einigen Meeresbere­ichen bereits über 90 Prozent aller Großfische ausgerotte­t hat, die Zahl der Nahrungsko­nkurrenten der Quallen. Als Folge davon befürchtet GEOMAR-Forscher Martin Visbeck eine massive Störung der Nahrungske­tten.

Zusätzlich dürfte die Erwärmung der Nordsee die Entwicklun­g und Vermehrung einiger Quallenart­en beschleuni­gen. Beispiel Schirmqual­len (Scyphozoa): Die Polypen produziere­n in immer kürzerer Zeit immer mehr Ephyren (eine Larvenform), die zu Medusen heranwachs­en. Ein Temperatur­anstieg von 2,6 Grad Celsius in der Nordsee würde viele Fischarten von dort vertreiben. Dank der so reduzierte­n Nahrungsko­nkurrenten stünden den Schirmqual­len nicht nur mehr Beute zur Verfügung, nach ihrer Fortpflanz­ung würden auch immer mehr Quallen überleben und sich ausbreiten.

 ?? Foto: imago/allOver ??
Foto: imago/allOver

Newspapers in German

Newspapers from Germany