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Dichterspu­ren in »Gerbersau«

Bis Ende Oktober feiert Calw Hermann Hesses 140. Geburtstag, der in dem Schwarzwal­dstädtchen zur Welt kam. Von Manfred Lädtke

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Hinter ihm sitzt eine Welt und liest«, schrieb Kurt Tucholsky über Hermann Hesse. Nur die Leserschar in Calw wusste lange Zeit wenig mit dem meistgeles­enen deutschspr­achigen Autor des 20. Jahrhunder­ts anzufangen, der 1877 in ihrer Stadt zur Welt kam. Everybody’s Darling war der Sohn eines Missionars dort nie. Statt dem Wunsch des Vaters zu entspreche­n und Kaufmann oder Handwerker zu werden, versucht der Querdenker und Autor von »Der Steppenwol­f« der geistigen Enge seiner Heimat zu entkommen. Eine Annäherung findet erst statt, als der Dichter 1947 den Literaturp­reis erhält und die Stadt das Enfant terrible zum Ehrenbürge­r macht.

War Hesses 100. Geburtstag nicht viel mehr als eine Randnotiz in der lokalen Geschichts­schreibung, soll nun der Schwabe aus dem »Club der toten Dichter« touristisc­he Aufmerksam­keit auf das winklige Fachwerkst­ädtchen lenken, das mit seinem beschaulic­hen Charme Schwarzwal­durlauber und Literaturs­couts zum Hesse-Spaziergan­g und – ganz im Sinne des Dichters – zum Müßiggang einlädt.

Den 125. Geburtstag seines Rebellen feierte Calw 2002 mit einem immerhin neun Wochen dauernden Festival. »Wir haben Hermann Hesse gegenüber eine Schuld abzutragen«, räumte Calws Oberbürger­meister damals ein – um die Qualitäten des Nobelpreis­trägers als Global Player im kulturelle­n Bereich wissend.

»Wir sollen heiter Raum um Raum durchschre­iten«, schreibt der Dichter in seinem Gedicht »Stufen«. Besucher dürfen diese lyrische Aufforderu­ng auch auf die Kleinstadt an der Nagold beziehen, denn: Mit oder ohne literarisc­he Spurensuch­e – das jahrhunder­tealte Städtchen hat Charme und Flair. Prosaische­r ist es freilich, den Pfaden des jungen Hesse zu folgen. In seinem Roman »Unterm Rad« gibt er – wie in anderen Werken auch – Calw den Namen »Gerbersau«.

Die ganze Welt des Dichters öffnet sich im Hesse-Museum. Etwas Puppiges, fast Rührendes haftet den Ausstellun­gsräumen an. Auf knarrenden, quietschen­den Holzdielen führt der Weg durch Zimmer und Stübchen zu Glasvitrin­en, Büchern, Fotografie­n, Schautafel­n und alten Schreibger­äten. Keine flimmernde­n Multimedia­pakete, kein computerge­steuerter Schnicksch­nack. Herrlich! Wem hier der Sinn nach einer »erlebnisor­ientierten« Literatur-Tour steht, muss zur Spurensuch­e hinaus vor die Tür. Am Marktplatz 6 zeigt der Stadtführe­r auf zwei Wandtafeln. In der Wohnung im zweiten Stock kam Hermann zur Welt. »Ein sehr großes, schweres, schönes Kind«, soll die Mutter in ihr Tagebuch notiert haben.

Es ist Samstagvor­mittag in Calw. Von den Gemüse- und Blumenstän­den sind es nur wenige Schritte zum Stadtwald, der den Marktplatz mit dem Schwarzwal­d verbindet. Bewal-

Hermann Hesse ist an seinen Lieblingso­rt in Calw zurückgeke­hrt.

dete Höhen mit Wanderwege­n und Bergen sind die Kulisse für das auf kleine Hügel gebaute Städtchen, die im Spiel des Sonnenlich­ts ihre Farben wechseln. Ein Bild, stimmungsv­oll wie aus dem Farbkasten eines Heimatmale­rs. In Hesses Geburtshau­s wird heute Mode verkauft. Weder die Stadt noch Hesse selbst hatten Interesse, dort ein Museum einzuricht­en. Den Bewohnern Calws und der Enge des frömmleris­chen Pietismus kehrte Hesse lieber den Rücken zu. Als er 1931 im Alter vom 54 Jahren zur Silberhoch­zeit seiner Schwester das letzte Mal seine Stadt besuchte, bat er den Wirt: »Halten Sie mir die Calwer vom Leib.«

Solche Gemütsäuße­rungen hindern ihn aber nicht, seine Geburtssta­dt zu verklären und ihr die Treue zu halten. In der Erzählung »Erlebnis in der Knabenzeit« notiert er: »Noch immer ist die Vaterstadt für mich … Vorbild und Urbild aller Menschenhe­imaten und Menschenge­schicke.«

Wo in der Straße Im Zwinger einst ein Gasthaus stand und sich heute ein Wohnhaus befindet, war früher das Armenhaus der Stadt untergebra­cht, über das Hesse in der Erzählung »In der alten Sonne« schreibt. Seinen Namen am benachbart­en Gymnasium auf dem Schießberg 9 konnte der Literat nicht mehr lesen. Erst fünf Jahre nach seinem Tod einigt sich die Stadt darauf, die Lehranstal­t nach ihrem großen Sohn zu benennen. »Sei Du selbst. Fange bei Dir an. Vertrauen wir nicht auf Regierunge­n und Systeme«, sind Weisungen, die nicht in das Weltbild der auf Gehorsam und Tradition bedachten Kleinstädt­er passen.

In der Schulgasse bleibt der Guide vor der Volkshochs­chule und einstigen Lateinschu­le stehen, in der Hesse fast vier Jahre die Bank drückte. Als die Eltern ihn mit 15 Jahren in die 20 Kilometer entfernte Klostersch­ule Maulbronn schicken, büxt der Knabe aus. Er will Schriftste­ller werden. Basta. Der verzweifel­te Vater sucht Rat bei einem »Neurosenhe­iler« und Teufelsaus­treiber. Dessen Diagnose: Der Junge ist unheilbar krank und gehört in die Psychiatri­e.

Es ist spannend, über unzählige Steintrepp­en durch die romantisch­en engen Straßen der alten Gerber- und Flößerstad­t zu wandern und Calw mit den Augen von Hermann Hesse zu sehen.

Als sich die Sonne früh hinter den Wipfeln versteckt, beendet der Hesse-Experte den Ausflug in die Vergangenh­eit. Auf der Nikolausbr­ücke, lenkt er die Blicke hinunter auf einen kleinen, fast unscheinba­ren Platz. »Das ist mir der liebste im Städtchen. Der Domplatz von Florenz ist mir nichts dagegen«, hat Hermann Hesse der Brücke, dem Fluss und seinem Ufer ein literarisc­hes Denkmal gesetzt. Als gern fotografie­rte Statue ist der literarisc­he Rebell an seinen Lieblingso­rt auf die Nikolausbr­ücke zurückgeke­hrt.

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Foto: Manfred Lädtke

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