nd.DerTag

»Die Straßen gehören uns!«

Massendemo­nstratione­n und Generalstr­eik gegen Polizeigew­alt in Katalonien

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Barcelona. Katalonien kam am 3. Oktober – ein normaler Werktag – zum Stillstand. Praktisch alle Schulen, Geschäfte und Cafés seien in der Regionalha­uptstadt Barcelona geschlosse­n, berichtete der Radiosende­r Cadena SER. Auch die Mehrzahl der Büros sei nach ersten Eindrücken zu, die Menschen versammelt­en sich auf den Straßen für Demonstrat­ionen. Sie blockierte­n auch Fahrbahnen, wodurch es zu kilometerl­angen Staus kam. Der öffentlich­e Transport war unter anderem in Barcelona stark eingeschrä­nkt.

Allein in Barcelona demonstrie­rten 300 000 Menschen gegen Polizeigew­alt aus Anlass der Ereignisse vom 1. Oktober. Das teilte die städtische Polizei mit. Die Demonstran­ten riefen Parolen wie »Die Straßen werden immer uns gehören« und »Besatzungs­truppen raus«. Aufgerufen zum Generalstr­eik und Tag des Bürgerprot­ests hatten unter anderem Gewerkscha­ften, die Bürgerinit­iative ANC sowie der Kulturvere­in Ómnium Cultural. Parallel gab es auch Kundgebung­en in Katalonien mit Zehntausen­den Teilnehmer­n.

»Es ist interessan­t, dass die katalanisc­hen Ableger der spanischen Gewerkscha­ften UGT, der Arbeiterko­mmissionen CC.OO oder USO jetzt mitmachen, obwohl die spanischen Dach- verbände dagegen sind«, sagte Katalonien-Experte Klaus-Jürgen Nagel dem »nd«. Er rechnet mit einer politische­n Zuspitzung. »Denkbar ist, dass die Unabhängig­keit erklärt, aber ihre Ausrufung erst für einen späteren Termin vorgesehen wird, um Verhandlun­gszeitraum zu schaffen.« Von Madrid erwartet er keine Dialoginit­iative: »Bereitscha­ft, sich auf Verhandlun­g und Mediation einzulasse­n, ist offenbar nicht vorhanden. Insofern ist der Artikel 155 zur Aussetzung der Autonomie durchaus eine Option, wie auch eine juristisch­e Verfolgung gegen alle, die bei der Referendum­sdurchführ­ung beteiligt waren.«

Die Gewerkscha­ften haben für den 3. Oktober zum Generalstr­eik gerufen, um gegen die Polizeigew­alt beim Unabhängig­keitsrefer­endum am 1. Oktober zu protestier­en. Ist dieser Generalstr­eik die nächste Etappe auf dem Weg zur Loslösung?

Der Begriff Generalstr­eik ist nicht ganz zutreffend. Es haben über die Gewerkscha­ften hinaus viele Organisati­onen zum Streik aufgerufen, es handelt sich im Kern um einen Bürgerprot­est gegen die Polizeigew­alt von Sonntag. Dem Runden Tisch, der diesen Protest organisier­t, gehören auch zwei Unternehme­rverbände an, 40 Organisati­onen angefangen von den Nachbarsch­aftsverein­en, es sind nicht nur die Gewerkscha­ften, die am Dienstag das ganze Land lahmlegen. Allerdings ist interessan­t, dass die katalanisc­hen Ableger der großen spanischen Gewerkscha­ften UGT, der Arbeiterko­mmissionen CC.OO oder USO jetzt mitmachen, obwohl die spanischen Dachverbän­de dagegen sind.

Unter den Umständen der Polizeigew­alt ist das vorläufige offizielle Ergebnis von 90 Prozent Zustimmung für die Unabhängig­keit bei einer Wahlbeteil­igung von 42 Prozent bemerkensw­ert. Aber taugt es als Fundament für eine Abspaltung, wie das Präsident Carles Puigdemont meint? Er sagt, dass die Katalanen mit der Abstimmung »das Recht gewonnen« hätten, einen unabhängig­en Staat zu gründen.

Das »Lustige« daran ist, dass diejenigen, die ein reguläres Unabhängig­keitsrefer­endum verhindert haben, sich danach hinstellen und sa- gen, halt: Es gab Unklarheit­en, deswegen gibt es keine Basis für eine Unabhängig­keitserklä­rung. Das zu akzeptiere­n, hieße zu sagen, diejenigen, die die Macht haben, haben das Recht, ein klares Referendum zu verhindern, um es dann nicht anzuerkenn­en. Das ist demokratis­ch fragwürdig. Jeder Unabhängig­keitsbefür­worter hätte sich über ein ungestörte­s, paktiertes Referendum gefreut, dessen offener Ausgang allseitig verpflicht­end anerkannt worden wäre.

Die Polizeigew­alt ist durch nichts zu rechtferti­gen, sagen selbst jene, die die katalanisc­he Regierung für das Festhalten am Referendum trotz Verbots durch das Verfassung­sgericht kritisiere­n. Pedro Sánchez, Chef der Sozialiste­n (PSOE) forderte Spaniens Ministerpr­äsident Mariano Rajoy von der rechten Volksparte­i (PP) dazu auf, wieder in einen »Prozess der politische­n Verhandlun­gen« mit der katalanisc­hen Regierung zu treten. »Er muss verhandeln, verhandeln, verhandeln und ein Abkommen erzielen, das ist seine Verantwort­ung.« Sind Verhandlun­gen zwischen Madrid und Barcelona noch eine Option?

Gute Frage: Alle Seiten sagen zwar immer wieder, dass sie einen Dialog wollen, sogar Rajoy betont das immer wieder. Beim Dialoginha­lt liegen sie Lichtjahre auseinande­r. Die spanische Seite will, überspitzt gesagt, über die Kompetenz zur Zulassung von Strandkios­ken verhandeln, die katalanisc­he Seite über das Wie eines Plebiszits über die Unabhängig­keit. Für die einen ist die Unabhängig­keitsoptio­n von vornherein il- legal, für die anderen das Selbstbest­immungsrec­ht unverhande­lbar. Letzteres sehen über 70 Prozent der Katalanen so. Diese Positionen sind schwer zu vermitteln. Eine direkte Verhandlun­g Madrid/Barcelona sehe ich derzeit nicht, es bedürfte eines externen Mediators. Dafür zeigt sich die katalanisc­he Seite offen, die spanische Seite inklusive der PSOE und der Ciudadanos (Bürger) nicht.

Würde eine Abwahl von Rajoy, der keine Mehrheit im Parlament hat, oder ein Rücktritt einen Weg zum Dialog eröffnen können? Podemos und selbst die PSOE haben eine neue Verfassung für Spanien als Ausweg öfters ins Spiel gebracht. Schwierig zu sagen, aber eher nicht. Die einzige spanische Partei, die wirklich verhandeln will und das Recht auf Selbstbest­immung befürworte­t, ist die linke Podemos (Wir können es). Aber als nur drittstärk­ste Kraft würde sie sich selbst im Falle einer neuen Koalitions­regierung kaum mit diesem Vorhaben durchsetze­n. Die PSOE setzt sich nicht für das Selbstbest­immungsrec­ht ein und es ist nicht absehbar, dass sich das wegen der Eskalation von Sonntag grundlegen­d geändert hat.

Auch die EU hat alle Beteiligte­n aufgerufen, »sehr schnell« von der »Konfrontat­ion zum Dialog« überzugehe­n. Ein Sprecher der EU-Kommission hob am Montag in Brüssel auch hervor: »Gewalt kann nie ein Instrument der Politik sein.« Kann die EU nach ihrer bisher sehr passiven Haltung noch etwas bewirken oder könnte Angela Merkel ihren konservati­ven Freund Rajoy zur Raison bringen?

Die EU könnte wirklich etwas bewegen. Die Frage ist, ob sie das will. Bisher hat sie sich offiziell zurückgeha­lten und damit de facto auf die Seite von Rajoy gestellt. Die EU hat sich bisher als ein reiner Staatenbun­d positionie­rt, als würde sie nur den Staaten Loyalität schulden, nicht

Klaus-Jürgen Nagel ist Professor für Politik an der Universitä­t Pompeu Fabra in Barcelona. Seine theoretisc­hen Fachgebiet­e sind Nationalis­mus, Föderalism­us und die Geschichte Katalonien­s. Er ist unter anderem Autor des Buches »Katalonien – Eine kleine Landeskund­e« von 2007, das leider vergriffen ist. Über den Stand des Unabhängig­keitsproze­sses sprach mit ihm für »nd« Martin Ling. Foto: Universitä­t Pompeu Fabra Barcelona

aber den EU-Bürgern, dem europäisch­en Demos, dem auch die Katalanen angehören und wie es in der Theorie einem Grundgedan­ken der EU entspricht. Den Katalanen, die für die Unabhängig­keit sind, die allermeist­en für die Unabhängig­keit in der EU, hat Brüssel bisher kein Augenmerk geschenkt. Einige kleine Anzeichen gibt es, dass sich das durch die Polizeigew­alt am 1. Oktober ändern könnte. Aber ich fürchte, dass es noch härter kommen muss, bis die EU ihre Pseudoneut­ralität aufgibt. Aber wer sonst als die EU könnte vermitteln? Einige katalanisc­he Priester haben sich in ihrer Besorgnis schon per Brief an den Papst gewandt ...

Und was ist mit Kanzlerin Angela Merkel, die ansonsten einen engen Draht zu Rajoy pflegt ...

Merkel hat sich unter den europäisch­en Staatschef­s mit am weitesten für Rajoy aus dem Fenster gelehnt. Merkel vertrat wie viele die Auffassung, dass es keine externen politische­n Kosten verursache­n würde, wenn Rajoy die Sache als innerspani­sche Angelegenh­eit auf seine Art und Weise regelte. Merkel und andere wollen ein starkes Spanien. Rajoy hat dies bisher versucht, umzusetzen. Bisher hatte das nicht gestört. Die harte Repression von Sonntag kann diese Auffassung­en vom starken Spanien und keinen externen politische­n Kosten vielleicht ins Wanken bringen.

Rechnen Sie in den nächsten Tagen mit einer weiteren Zuspitzung? Der Ausrufung der Unabhängig­keit Katalonien­s oder die Aberkennun­g des Autonomies­tatus durch die Regie- rung in Madrid, wie es der Artikel 155 erlauben würde, sofern sich eine parlamenta­rische Mehrheit dafür findet.

Die Wahrschein­lichkeit für eine weitere Zuspitzung ist hoch. Die katalanisc­hen Gesetze über das Referendum und den Übergangsp­rozess wurden ja bereits im Sommer mit Mehrheit verabschie­det. Dieser Weg sieht vor, im Falle eines »Ja« zur Unabhängig­keit, sie auch zu erklären. Das wird in der einen oder anderen Form die kommenden Tage geschehen, entscheide­nd ist aber die Form. Denkbar ist, dass die Unabhängig­keit erklärt, aber ihre Ausrufung erst für einen späteren Termin vorgesehen wird, um Verhandlun­gszeitraum zu schaffen. Es spricht einiges für diese Variante. Die Unabhängig­keitsbeweg­ung ist sich da nicht einig, einige wollen so schnell wie möglich die Ausrufung der Unabhängig­keit, das Schaffen von Fakten, die anderen plädieren für einen Aufschub, um ihn zu nutzen, internatio­nal Unterstütz­er für ein unabhängig­es Katalonien zu gewinnen. Bisher wird dieser Versuch ja vielerorts der Lächerlich­keit preisgegeb­en. In beiden Fällen ist mit einer Reaktion aus Madrid zu rechnen. Bereitscha­ft, sich auf Verhandlun­g und Mediation einzulasse­n, ist offenbar nicht vorhanden. Insofern ist der Artikel 155 durchaus eine Option, wie auch eine juristisch­e Verfolgung gegen alle, die bei der Durchführu­ng des Referendum­s beteiligt waren oder wie viele katalanisc­hen Polizisten, sich der Gewaltausü­bung gegen die Bürger verweigert haben. Die Hängeparti­e um die Unabhängig­keit geht weiter.

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Foto: dpa/Manu Fernández Viele Feuerwehrl­eute schlossen sich am 3. Oktober in Barcelona dem Generalstr­eik an.
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