nd.DerTag

Makarenko und Torgau

»Der Weg ins Leben« am Staatsscha­uspiel Dresden, Regie: Volker Lösch

- Von Hans-Dieter Schütt

Sag zum gewöhnlich­en Boden unter den Füßen: Erdreich – und schon stehst du ganz anders da. Erklär den Weg ins Leben zur Hauptstraß­e der Weltgeschi­chte – und schon hält die Sackgasse ihren wahren Zustand für eine Verleumdun­g. Und der sogenannte neue Mensch? Ideologie. Die schwächt zwar den Verstand, stärkt aber den Willen. Den Willen, den Menschen zu befreien, und sei es um den Preis, ihn zu brechen. Das ist Thema der jüngsten Inszenieru­ng von Volker Lösch am Staatsscha­uspiel Dresden.

»Der Weg ins Leben« heißt der Abend von Lösch und Jörg Bochow (Bühne: Cary Gayler) – nach Texten von Anton Makarenko, mit collagiert­en Dokumenten und Zeitzeugen­protokolle­n. In einer schmutzige­n, räudigen Menge Jugend steht tastend, testend ein ebenfalls verschmutz­ter Erwachsene­r. Lehrer Anton Makarenko. Das Projekt eines sozialutop­ischen Kinderheim­s im jungen, kriegsblut­enden Russland der Revolution­äre – Erziehung durch Arbeit, Bildung, Gemeinscha­ft – verwandelt »seine« Schützling­e bald in strahlend weiß Uniformier­te und ihn selbst in eine Autorität mit schwerem Ledermante­l.

Viktor Tremmel gibt diesen Makarenko mit großen glühenden Augen, ein Idealist der praktische­n Zugriffe. Das Leben im Heim: Bilder, wie der Seelenstah­l gehärtet wird. Kindheiten mit viel Zigaretten­rauch. Und Lachen. Selbstverw­altung zwischen Solidaritä­t und Strafhärte. Eine Spaten-Choreograp­hie als Vorwegnahm­e des Marschs an Kriegsfron­ten.

Regisseur Lösch in seinem Element der peitschend­en Chöre und preschende­n Arrangemen­ts. Er wird nie ein Psychologe sein. Es gibt genügend. Er wuchtet und kantet, aber mit Bedacht. Er ist ein fein arbeitende­r Grobmechan­iker, er schraubt und hämmert, bis eine gesellscha­ft- liche Motorik ihr Knirschen offenbart. Ein zeigetheat­ralischer Bilderboge­n jagt zur Musik von FM Einheit durch sozialisti­sche Geschichte: die Frühzeit der Bolschewik­i; die kommunisti­sche Erziehung in der DDR; die kulturpoli­tischen Fallbeile des 11. ZK-Plenums 1965; die militante Disziplini­erungsmasc­hine der Jugendwerk­höfe. Die Lamellen der Bühne erinnern an Zellengitt­er – schließen sie sich zur Wand, so wird die Szene zum offenen Platz. Festplatz, Exerzierpl­atz. Die Inszenieru­ng verbindet schmissige­s Massenthea­ter, Schauspiel­er-Bilder der frontalen Ansprache und aufwühlend­e Erzählpass­agen.

Dies nämlich steigert sich zum bedrängend­en Kern der Aufführung: Fünf einstige Insassen des Geschlosse­nen Jugendwerk­hofes Torgau erzählen ihr Schicksal. Ilona Enskat, Anette Gebel-Kozian, Stefan Lauter, Andreas Richter, Detlev Sadrinna. Sie erzählen bewusst gemäßigt, sachlich – als solle der Schauder einer Distanz versucht werden, die es aber nicht wirklich geben kann. Denn da schuf ein Staat unglücklic­he Menschen, sperrte sie ins Gesellscha­ftsverhäng­nis. Wir erfahren mürbende Odysseen durch Heime (»Ich hatte eine schweinisc­he Sehnsucht nach einer richtigen Schule«), und in Torgau regiert die brutale Praxis der Erzieher. Ein Chor trägt die »Belehrung über die Anwendung von Schlagstöc­ken« von 1964 vor: » .... dabei ist der Schlag nur in die Weichteile des Gegners zu schlagen.« Das empfindlic­hste Weichteil ist die Seele. Die Folgen von Torgau: Angst vor geschlosse­nen Türen, kleinen Räumen, gedämpftem Licht; ein stolpernde­s Soziallebe­n zwischen Fließband und Arbeitsamt; Vergessenw­ollen und Nichtverge­ssenkönnen. Einer der Zeitzeugen konnte lange nur in dritter Person von sich erzählen, »anders hätte ich das nicht ertragen«.

Es muss ein schreiende­s Bedürfnis nach Gespräch und Gehör sein, das den Opfern diesen Mut zur Öffent- lichkeit gab. Denn es ist erschütter­nd, was sie so böse ins Leben stieß und was sie nun von sich preisgeben: Keine Liebe, keine Herzensbil­dung, zerrüttete Familien, psychische Probleme (»Ich war nie ein Normalkind«). Vom seelenlose­n Offiziersv­ater bis zur sexsüchtig­en Mutter, vom Schulschwä­nzen bis zur brutalen Unbeherrsc­htheit (»Wenn schon Liebe, dann konnte ich die nur immer umsetzen in Gewalt«), die Verwahrlos­ung schließlic­h als Not, aber auch einzige Freiheit – so viele unglücklic­he Faktoren, die eine staatliche Fürsorge zwingend wie wünschensw­ert machten. Und dann: der vermeintli­che Weg ins Leben als fortwähren­de Strafexped­ition.

Da sitzen diese »Torgauer«, schauen ins Publikum, als wollten sie sagen: Träume sind schöner als ein Trauma. Denn Träume verbinden, ein Trauma aber bindet Atemzüge zu und macht einsam. Diese Zeugen wirken, als wollten sie einen Besitz nicht hergeben, die Angst. Als einer der zehn Schauspiel­er, die von Rolle zu Rolle springen, die pathetisch hohle Rechtferti­gungsrede eines damaligen Lehrers von Torgau präsentier­t, verlassen die Zeitzeugen im Stolz des Angewidert­seins die Bühne. Einer von ihnen wird später sagen: »Als der Direktor von Torgau unmittelba­r nach dem Mauerfall starb, habe ich eine Flasche Piccolo aufgemacht.« Tief sitzende Unversöhnl­ichkeit.

Oft lesen die Fünf ihre Texte, und um sie herum: szenische Illustrati­on. Die befohlene Entblößung, die Notdurft in Eimer-Reihe, der Stoß von Treppenstu­fen, der verschärft­e Arrest etwa nach »Selbstvers­tümmelung«. Ein Kartoffelr­egen prasselt vom Schnürbode­n herab: harte Arbeit und »ungenießba­res Essen«. Dazu des Torgau-Direktors verblasene­s Theoretisi­eren, was angestrebt sei: »durch eine explosive Veränderun­g der bisher negativen Einstellun­g der Jugendlich­en eine Umerziehun­g«. Explosion? Auch sie wird Szene: Wucht der Hiebe mit dem schweren Schlüsselb­und, Vehemenz des Brüllens.

Wieder ist nach dieser Aufführung an die skandalöse, schmerzend­e Gleichzeit­igkeit zu denken: Aufschwung und Niederriss, menschlich­er Ansatz und inhumane Verhärtung. Da war Makarenkos lebensrett­ende, von Idealen der Aufklärung beseelte Arbeit für Kinder und Jugendlich­e; da war der revolution­äre Plan, im kleinen Ich bleibende Lockreize fürs große Wir zu wecken. Aber da obsiegte der große Irrtum, der alles zerstörte: zu glauben, die Freiheit des Menschen erfülle sich in dessen rücksichts­loser Vergesells­chaftung.

Aus Makarenkos Zöglingen waren beim rasanten Beginn Pioniere mit blauem Halstuch geworden – der Rampenchor schmettert­e wie aufgezogen Ulbrichts Gebote der sozialisti­schen Moral: Du sollst, du sollst ... Dahinein das ehrliche Lockerungs­gebot der FDJ: Beat und nicht nur immer Blauhemd. Gemäßigt wilder Tanz auf der Bühne, die Renft-Combo präsentier­t ihre Kraft: »Zwischen Liebe und Zorn.« Aber aufmarschi­ert nun stocksteif­e Bürokratie: das kunstfeind­liche Scharfrich­tertum beim 11. ZK-Plenum der SED 1965.

Ulbricht, Honecker: hämische Zensur und der Scharfmach­erton der geltenden Pädagogik. Auf der Leinwand eine Passage des damals ver- botenen Films »Spur der Steine« – dem folgt auf der Szene die windungsfl­otte Selbstkrit­ik eines Filmregiss­eurs; Daniel Séjourne steigert sie zum grotesken Körperball­ett aus Verkrampfu­ng, Verbiegung und reuevoller Selbstverg­atterung.

So etwas wie Torgau erscheint bei Lösch als schlimme Konsequenz einer Denkungsar­t, wie sie eben auch in jenem Plenum ihr Sinnbild erfuhr: Das Wechselbad zwischen lauer Öffnung und nächster kalter Verengung offenbarte die Furcht der Neumensche­nbildner vor der Widersprüc­hlichkeit des lebendigen Menschen.

In den Schlussmin­uten umkurven bunt kostümiert­e Egozentrik­er das Bühnenrund. Nicht die neuen, aber sehr wohl neuzeitlic­hen Menschen. Tanz der austauschb­aren Individual­isten. Stressgepl­agte, die sich täglich neu erfinden müssen, um den Härtegebot­en der Moderne gerecht zu werden. Auftritt noch einmal des Schauspiel­ers Viktor Tremmel, als Leiter der Salem-Eliteschul­e am Bodensee. Eine zynisch lässige Verabschie­dung liberaler Pädagogik. Bildungsku­lturell gehe Chaos um. Schulterzu­cken: »Der lange Arm Hitlers hindert uns eben noch immer daran, Disziplin selbstvers­tändlich einzuforde­rn.« Klingt ein wenig, als sei Torgau der Name eines Virus. Der brachte Makarenko um, und Vorsicht: Der könnte womöglich Hunger auf jede Zukunft haben.

Wer im Publikum mag diesen Abend als Bestätigun­g einer eigenen bitteren DDR-Sicht empfinden? Wer dagegen, obwohl er im gleichen Land lebte, begegnet hier Erzählunge­n aus einer anderen Welt? Wer sagt grundsätzl­ich: das System? Und wer ruft einschränk­end: Einzelfäll­e! Denn: Praktiken wie in Torgau seien ja wohl keine Erfindung der Kommuniste­n. Gewiss nicht. Aber nehmen wir an dieser Stelle eine Anleihe beim gern beschworen­en Bertolt Brecht: »Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von meiner.«

Lösch schraubt und hämmert, bis eine gesellscha­ftliche Motorik ihr Knirschen offenbart.

Nächste Vorstellun­gen: 7., 9. Oktober

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Foto: Sebastian Hoppe Ein Bild, wie der Seelenstah­l gehärtet wird

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