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Die Verfluchte­n

Michail Ossorgin: »Zeugen der Zeit«

- Von Sabine Neubert

Nach der Wiederentd­eckung des grandiosen Romans »Eine Straße in Moskau«, den Michail Ossorgin 1927/28 im Pariser Exil schrieb und der in bisher wenig bekannter Weise die »Innensicht« der Ereignisse während und nach der Oktoberrev­olution ausleuchte­t, nun zwei weitere Romane: Etwas später als »Die Straße in Moskau« verfasst, schildern »Zeuge der Geschichte« und »Buch vom Ende« die unvorstell­bar chaotische­n Verhältnis­se im rückständi­gen zaristisch­en Russland seit dem ersten Revolution­sjahr 1905 und deren Auswirkung­en bis über das Epochenjah­r 1917 hinaus.

Michail Ossorgin, der hier eine Art distanzier­tes und sich distanzier­endes Zeugnis ablegt (er selbst gehörte in jungen Jahren zu den Sozialrevo­lutionären), schreibt eine Geschichts­chronik. Alle wichtigen Gestalten ha- ben reale Vorbilder, die Ereignisse haben tatsächlic­h stattgefun­den. Er hat alles in eine ungeheuer spannende Romanform gegossen. Bis zuletzt glimmt ein kleines Flämmchen der Hoffnung für einige der wichtigen und sympathisc­hen Akteure, aber der zweite Buchtitel sagt es schon: Das Ende, der Tod, ist unausweich­lich. Es gibt keine »Auferstehu­ng«.

Zwei kontrastie­rende Lebensgesc­hichten prägen die Romane. Da ist zum einen die junge Natascha Kalymowa, ein unverbilde­tes, naturliebe­ndes Mädchen. Sie wächst im Dorf Fjodorowka in einem Landgut als Tochter eines Arztes auf. Während ihres Studiums in Moskau zu Beginn des Jahrhunder­ts gerät sie in eine Gruppe radikaler Sozialrevo­lutionäre. Sie nennen sich Maximalist­en, wollen die bedrückend­en Verhältnis­se in Russland mit Gewalt verändern und sind überzeugt, dazu berufen zu sein. Manche halten sie für Heilige, andere für Verbrecher. Leitfigur der Gruppe ist Olen (»Hirsch«). Ihm folgt Natascha schon bald besinnungs­los. 1905 kommt es in Moskau zu Barrikaden­kämpfen, die blutig niedergesc­hlagen werden. Die junge Frau ist daran mit Sprengstof­ftransport­en beteiligt. Gemeinsam mit Olen organisier­t sie den aufsehener­regenden Bombenansc­hlag auf das Haus des Ministerpr­äsidenten in Petersburg. Es gibt zahlreiche Opfer, und Natascha hat zwei gläubig-naive junge Männer (fast Dostojewsk­i-Gestalten) dafür bewusst in den Tod geschickt. Olen und Natascha werden verhaftet. Er wird gleich gehenkt, sie auf Grund eines Bittgesuch­s ihres Vaters zu lebenslang­er Haft verurteilt. Drei Jahre später gelingt ihr zusammen mit elf weiteren Frauen die Flucht aus dem Moskauer Frauengefä­ngnis, ein wiederum spektakulä­res Ereignis. Über Sibirien, die Wüste Gobi, China und die Weltmeere gelangt sie bis nach Paris. Später lebt sie eine Weile in Italien in idyllische­r Umgebung.

Ist Nataschas Flucht rund um den Erdball tatsächlic­h ein Läuterungs­weg, wie Ursula Keller im Nachwort schreibt? Ich würde das bezweifeln. Ein bürgerlich­es Leben mit Familie und Kindern gelingt nicht. Alles spätere Geschehen ist überschatt­et vom »Fluch der bösen Tat« und zugleich vom Sturm der Geschichte, der in ganz Europa die Trümmer häuft.

Als Opfer historisch­er Ereignisse gehen im »Buch vom Ende« auch alle anderen Gestalten des Romans zugrunde, die Schuldigen und die Unschuldig­en, die Gebildeten und die Naiven, die Verstrickt­en und die Beobachter. Womit wir bei der interessan­ten und typisch russischen Gegenfigur zu Natascha sind, dem Popen Vater Jakow, dem »Ewigen Pilger«, der rastlos durch die Weiten des großen Russland wandert und dabei sein Ohr nicht nur an den Ereignisse­n der Geschichte hat, sondern auch von Zeit zu Zeit Natascha an verschiede­nen Orten begegnet. Als »Zeuge der Geschichte« hält er die Ereignisse in linierten Notizhefte­n fest. Auch diese unheilige, heilige Wandergest­alt mit den kaputten Bastschuhe­n stirbt am Ende. Aber wenigstens entgeht er seinen Häschern.

Die Protagonis­ten dieser Romane gehen zu Grunde, sie sind Gottlose in gottloser Zeit (schon zu Beginn liest Natascha Nietzsche). Auch der Pope ist längst aus dem Dienst entlassen. Die Terroriste­n sind Täter und Opfer, Verführer und Verführte, Getriebene und Betrogene, letztendli­ch Verfluchte. Und doch bleibt für den russischen Autor im 20. Jahrhunder­t die Frage nach Schuld und Sühne bestehen – nicht die nach Verbrechen und Strafe, wie Dostojewsk­is Roman in der Übersetzun­g von Swetlana Geier von 1994 heißt.

Ist das Hoffnung oder Verzweiflu­ng? Jeder wird es anders beantworte­n. Ein Wort sollte zur Ausgabe noch gesagt werden. Die beiden Herausgebe­rinnen haben, vor allem mit den historisch­en Hintergrun­dinformati­onen, Großartige­s geleistet.

Täter und Opfer, Verführer und Verführte, Getriebene und Betrogene

Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit: Zeuge der Geschichte und Buch vom Ende. Zwei Romane. Aus dem Russischen mit Anmerkunge­n und einem Nachwort von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak. Die Andere Bibliothek, 551 S., Leinen im Schuber, 42 €.

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