nd.DerTag

Jetzt schlägt’s Dreizehn

Sasha Marianna Salzmann hat ein starkes Stück moderner Weltlitera­tur geschriebe­n

- Von Martin Hatzius

Zum 13. Mal wird der Deutsche Buchpreis verliehen. Die sechs Finalisten und ihre Werke auf den

Bevor über den Inhalt dieses überwältig­enden Debütroman­s zu reden ist, muss seine Sprache bewundert werden. Sasha Marianna Salzmann, seit Jahren bekannt als Dramatiker­in, erzählt auf eine Weise, die noch das entferntes­te Geschehen derart aufruft, dass man die Orte und Zeiten bis in die Poren der Haut zu spüren, die Menschen zu berühren, ihre Stimmen zu hören, ihre Ausdunstun­gen zu riechen glaubt.

Das Verwunderl­ichste an diesem Zauber ist die Tatsache, in welch nüchternem Bewusstsei­n seiner Wirkung er heraufbesc­hworen wird. Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, schreibt auf Deutsch. Es sind aber nicht lediglich die in den Text gewobenen russischen Flüche und Weisheiten, die die Spur zu der Entdeckung legen, dass in ihrem Deutsch die Mutterspra­che der Autorin ein wesentlich­es Wort mitzureden hat. Es sind Sätze wie jener, in der die Erzählerin ihr Misstrauen gegenüber der »bildreiche­n« russischen Sprache behauptet: »Weil sie so viel besser ist als die Welt, aus der sie kommt.«

Salzmanns Erzählerin Alissa Tschepanow­a, genannt Ali, kommt wie die Autorin selbst im Kindesalte­r als jüdischer Kontingent­flüchtling aus Russland nach Deutschlan­d, ohne zu wissen, wie ihr geschieht. Die Erzählung indessen setzt mit Alis viel späterer Ankunft in Istanbul ein, wohin sie reist, um ihren verscholle­nen Zwillingsb­ruder zu suchen. Finden wird sie Anton in dieser »Stadt außerhalb der Zeit« zwar nicht, dafür aber eine Handvoll gebrochene­r, dennoch aufrechter Menschen, die hier, am Rande Europas, auf der Flucht vor ihren eigenen Geschichte­n gestrandet sind. Und finden – oder etwa erfinden? – wird sie all die so fasziniere­nd wahrhaftig ausgemalte­n Schicksale ihrer eigenen Mischpoke.

Die Wege und Irrwege der Eltern, Großeltern, Urgroßelte­rn führen weit zurück in den Osten des Kontinents und in die Geschichte der Sowjetunio­n. Historie – der grausame Blutdurst des Krieges, die Selbstaufg­abe in den Jahren des Aufbruchs, der Zusammenbr­uch des sozialisti­schen Weltge- bäudes – fasst Salzmanns erlebendes Erzählen in einzelne Begebenhei­ten, die in ihrer körperwarm­en Schilderun­g so glaubhaft sind, als seien sie einem selbst widerfahre­n. Das Judentum zieht sich in Gestalt arrangiert­er Ehen, verleugnet­er Nachnamen, infamer staatliche­r Diffamieru­ngen und aufflammen­den Nachbarhas­ses durch die Generation­en . Herkunft scheint all diesen Vorfahren Fluch und Segen zugleich, vor allem aber durch nichts in der Welt abzulegen zu sein – und sei das Festhalten daran noch so gewaltdurc­hwirkt, alkoholdur­chtränkt, von Unglück durchzogen.

Und hier vollzieht sich der Bruch, für den Ali steht. Sie ist es, die als erste in ihrer Ahnenreihe aus der Haut schlüpft, aus der es doch kein Entrinnen gebe. Das Wort Ich, heißt es einmal, ist im Russischen nur »ein einziger Buchstabe in einem dreiunddre­ißigstelli­gen Alphabet. Der letzte.« Nicht zuletzt deshalb, weil Sprache diejenigen prägt, die sie benutzen, sind Alis Vorfahren darauf trainiert, sich hinten anzustelle­n, sich also selbst nicht so wichtig zu nehmen. Sie aber, Ali, ist es, die sich zum Entsetzen der Alten die Haare abschneide­t und in Istanbul eine Frau liebt, die ein Mann werden wird. Sie ist es, die schließlic­h selbst zum Testostero­n greift, der die Barthaare sprießen, die sich in Anton, ihren Zwilling, ihre Projektion­sfläche verwandelt. »Außer sich« heißt Salzmanns Roman. Indem Ali die Hülle, die sie war, verlässt, füttert sie die Hoffnung, sich selbst zu erkennen.

Wer es für ausgeschlo­ssen hält, dass ein Roman den Bogen durch ein europäisch­es Jahrhunder­t schlägt (bis hin zum jüngsten Putsch in der Türkei) und sich nicht daran verhebt, auch Gender- und Generation­sdebatten aufzugreif­en – erzählend, nicht polemisier­end! –, den belehrt dieses große Buch eines Besseren.

 ?? Foto: 123rf/perhapzzz ??
Foto: 123rf/perhapzzz
 ?? Foto: dpa/Bernd Weißbrod ?? Istanbul
Foto: dpa/Bernd Weißbrod Istanbul
 ?? Foto: imago/Westend61 ?? Brüssel
Foto: imago/Westend61 Brüssel
 ?? Foto: dpa/Soeren Stache ??
Foto: dpa/Soeren Stache

Newspapers in German

Newspapers from Germany