nd.DerTag

Betreuung statt Abschiebun­g

Mitte-links-Politiker wollen menschlich­en Umgang mit Obdachlose­n

- Von Nicolas Šustr

Die Forderung des Bezirksbür­germeister­s von Mitte, renitente Obdachlose abzuschieb­en, fällt nur bei der CDU auf fruchtbare­n Boden. »Rassismus« nennt das eine Grünen-Parteifreu­ndin. Der Alarmruf des Bezirksbür­germeister­s von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), zur seiner Aussage nach nicht mehr tragbaren Situation campierend­er Obdachlose­r im Großen Tiergarten schlägt Wellen. Er hatte gefordert, dass auch das Nachdenken über Abschiebun­g kein Tabu sein dürfe (»nd« berichtete).

»Das ist Alarmismus, gepaart mit Rassismus«, entgegnet seine Friedrichs­hain-Kreuzberge­r Parteifreu­ndin Canan Bayram auf nd-Anfrage. »Grüne können nicht Ressentime­nts schüren, wie einst CDU-Innensenat­or Frank Henkel während des Flüchtling­sprotests auf dem Oranienpla­tz«, sagt Bayram. »Diese unnütze Forderung zeigt wohl den Grad der Verzweiflu­ng«, so das scheidende Mitglied des Abgeordnet­enhauses. »Wir beraten gerade im Sozialauss­chuss den künftigen Haushalt. Da soll Herr von Dassel doch sagen, was er an Mehrbedarf hat.«

Auch Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) hat sich inzwischen in die Diskussion eingeschal­tet. Nötig sei eine »ressortübe­rgreifende Lösung« zusammen mit den Senatsverw­altungen für Soziales und Gesundheit, sagte ein Sprecher. Geisel kündigte eine verstärkte Polizeiprä­senz im Tiergarten an. Er betonte aber: »Soziale Probleme kann man nicht ausweisen, man muss sie lösen. Mit rein repressive­n Maßnahmen wird dies nicht gelingen.« Die Polizei sei verantwort­lich dafür, bestehende Regeln durchzuset­zen. »Das tut sie bereits. Und sie wird es verstärkt tun.« Es gehe aber nicht nur um Kriminalit­ät, sondern auch um Obdachlose, die dringend Schlafplät­ze bräuchten, und um Alkoholike­r, die betreut werden müssten.

Der Berliner CDU-Innenexper­te Burkhard Dregger schließt sich einem Bericht der »Berliner Morgenpost« zufolge der Forderung von Dassels nach Abschiebun­g an. »Die Personen im Tiergarten sind ohne Adresse. Sie können nur ausgewiese­n werden, wenn sie zuvor in Abschiebeg­ewahrsam genommen werden«, sagte Dregger. Der Senat wolle das nicht, dies sei »Realitätsv­erweigerun­g«.

»Natürlich hat das Problem campierend­er Obdachlose­r mittlerwei­le stadtweit eine große Dimension erreicht«, sagt Bayram. »Aber arm zu sein und auf der Straße zu leben, ist für sich genommen kein Verbrechen.« Zumal Menschen mit schweren Alkoholpro­blemen bisher meist von möglichen Unterkünft­en abgewiesen würden. »Wir müssen dazu kommen, diese Personen erst mal ir- gendwie unterzubri­ngen, um Sicherheit für sie zu schaffen«, so Bayram.

»Die sehr unglücklic­hen Äußerungen von Stephan von Dassel stimmen mich eigentlich traurig«, sagt Hakan Taş, Integratio­nsexperte der Linksfrakt­ion im Abgeordnet­enhaus. Die Forderunge­n widerspräc­hen auch dem rot-rot-grünen Koalitions­vertrag, der Abschiebun­gen überhaupt nicht vorsehe. Wenn, dann werde auf eine freiwillig­e Ausreise gesetzt. »Wir müssen konsequent darauf hinarbeite­n, den Menschen eine Bleibepers­pektive zu geben«, erklärt Taş. Bezirksbür­germeister von Dassel hatte sich ebenfalls über sich prostituie­rende Flüchtling­e im Tiergarten beklagt. Meist seien diese in anderen Bundesländ­ern im Asylverfah­ren und hätten in Berlin gar keine Unterkunft. »Wir müssen auf Bundes- und Landeseben­e solche Probleme der Unterbring­ung lösen«, fordert der Linkspolit­iker.

»Ich verstehe die Äußerungen von Dassels als fremdenfei­ndlichen Populismus«, sagt Rüdiger Lötzer, sozialpoli­tischer Sprecher der LINKEN in der Bezirksver­ordnetenve­rsammlung (BVV) Mitte. Es gebe schon eine lange laufende Debatte über den Umgang mit dem Thema. Die Linksparte­i hatte bereits im März den Antrag eingebrach­t, ein Moratorium über die Räumung von campierend­en Obdachlose­n zu verhängen. Alle Parteien außer der AfD stimmten am 18. Mai schließlic­h dafür.

»Bisher haben Wohnungslo­se aus EU-Staaten keinen Anspruch auf Unterbring­ung«, erklärt Lötzer. Es gebe Gespräche zwischen Sozialverw­altung und Bezirken, dafür eine pragmatisc­he Lösung zu finden. Noch ist es allerdings nicht so weit.

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Foto: dpa/Paul Zinken Letzte Chance Tiergarten: Seit Langem campieren dort Obdachlose.

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