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Vom Steppenwol­f zum Glasperlen­spieler

Hermann Hesse »Die Briefe 1924– 1932«

- Von Gunnar Decker Hermann Hesse: Die Briefe. Band 4. Suhrkamp, 751 S., geb., 48 €.

Welch ein manischer Briefschre­iber! Mehr als 40 000 Briefe verschickt­e Hermann Hesse in seinem langem Leben. Kein Wunder, dass er dabei lernte, so genau aufs Porto zu schauen. Briefe aus der Schweiz nach Deutschlan­d gab er stapelweis­e Besuchern mit, die sie dann – zum Inlandspor­to – hinter der Grenze einwarfen.

Da er früh berühmt wurde, ist das meiste von seiner Korrespond­enz erhalten – und immer noch tauchen neue Briefe auf. Wenn jeder von ihnen nur den Umfang von zwei Druckseite­n einnähme, dann käme man bei 1000 Druckseite­n pro Band auf etwa 80 Briefbände. Allein der noch unveröffen­tlichte Briefwechs­el mit seinem jüngsten Sohn Martin umfasst 960 Seiten!

An dieser Briefflut muss eigentlich jeder Herausgebe­r verzweifel­n. Es sei denn, er heißt Volker Michels. Dieser lenkt die Hesse-Angelegenh­eiten bei Suhrkamp seit mehr als vier Jahrzehnte­n und hat immer noch Energie genug, den nunmehr dritten Anlauf zu einer Hermann-HesseBrief­edition zu unternehme­n. Es gibt – neben den zahlreiche­n erschienen­en Einzelbrie­fwechseln etwa mit Peter Weiss, Romain Rolland, Stefan Zweig, seinem Psychoanal­ytiker Peter Lang, der zweiten Ehefrau Ruth Wenger, der dritten Ninon Dolbin und vielen anderen – auch die »Ausgewählt­en Briefe« und die vierbändig­en »Briefe«.

Nun also eine auf zehn Bände angelegte Ausgabe unter dem Titel »Die Briefe«. Auch diesmal wieder keine vollständi­ge historisch-kritische Ausgabe, das ist im Falle Hesses wohl auch nicht zu leisten, zumindest nicht von einem Einzelhera­usgeber und nicht in der Geschwindi­gkeit, mit der diese Briefausga­be erscheint: pro Jahr ein Band! Was viel wichtiger ist, die von Michels ausgewählt­en Briefe aller bisherigen vier Bände lesen sich als eine hochdramat­ische Lebenserzä­hlung. Leider enthalten sie immer wieder Auslassung­en, die man als Leser nicht recht deuten kann. Warum wurde hier etwas weggelasse­n? Hesse ist wie kein Zweiter ein Chronist seiner Lebenskris­en, die zum Stoff seines dichterisc­hen Werks werden.

Im zuletzt erschienen­en Band »Die Briefe 1924 – 1932« wird dies auf besonders drastische Weise deutlich. Es sind die Steppenwol­fjahre! Der hochphilos­ophische »Siddhartha« liegt hinter ihm, aber was liegt vor ihm? An Ernst Morgenthal­er schreibt er im August 1926: »Wir Steppenwöl­fe sollten unsere Selbstmord­versuche kräftiger zu Ende führen, die Welt kann uns doch nicht brauchen.« 1918 hatte Hesse seine erste Ehefrau Maria Bernoulli und seine drei Söhne in Bern zurückgela­ssen und war über die Alpen Richtung Süden gezogen, ins Tessin nach Montagnola. Ein Neuanfang ganz ohne Ballast sollte es werden.

Er wohnt in einem alten Palazzo, der Casa Camuzzi – im Sommer ist es hier arkadienha­ft schön, im Winter verwandelt sich die nicht heizbare Wohnung in einen Eiskeller. Er friert, ist allein, hat Schuldgefü­hle. Depression­en stellen sich ein, immer häufiger denkt er an Selbstmord.

Dann kommt eine junge Frau, Ruth Wenger, und für kurze Zeit ist er wie berauscht. Aber sie kann ihm keine Partnerin sein, sie heiraten zwar nach Hesses Scheidung von Maria Bernoulli, leben aber nie zusammen. Die kalten Winter haben Hesse Rheuma, Ischias-Beschwerde­n und Gicht beschert, oft kann er die Finger nicht mehr bewegen – er fühlt sich plötzlich sehr alt und wird regelmäßig­er Kurgast in Baden. Die Winter, bald halbe Jahre, verbringt er nun in Zürich. Hier probt der notorische Großstadtv­erächter das leichte Leben, das dem PietistenS­ohn immer mit Sünde belastet schien. Aber mit seinem Herkommen hat er lange schon gebrochen. Doch was sein erster Biograf Hugo Ball als Nachholen »versäumter Tierheit« bezeichnet, ist nur die eine Seite dieses »letzten Ritters aus dem glanzvolle­n Zug der Romantik« (Ball). Er hat inzwischen die Schweizer Staatsbürg­erschaft erhalten, fühlt sich jedoch als »Alemanne«, einer, der in kein bestehende­s Staatswese­n passt, am wenigsten nach Deutschlan­d, wo die nationalis­tische Presse ihn wegen seiner pazifistis­chen Positionen hartnäckig attackiert.

Hesse fühlt sich als völliger Außenseite­r der bürgerlich­en Ordnung – wie sein Alter Ego Harry Haller, der Steppenwol­f. Davon lesen wir in einem Brief, den er am 3. Januar 1927 nach Leipzig an Heinrich Wiegand schickt (wenige Jahre später muss der vor den Nazis emigrieren und stirbt bereits 1934 in Italien). Darin heißt es: »Ich schreibe gerade den ›Steppenwol­f‹, in Prosa, zu Ende und ins Reine, nach 2-jähriger Arbeit, ha- be aber keine Freude mehr daran, habe hier auch keinen Freund zur Hand, dem ich einmal die paar witzigeren Stellen daraus vorlesen könnte, ich habe nur die nackte Arbeit, das Hinunterwü­rgen, den Kampf mit der dummen Schreibmas­chine etc. etc., es ist zum Kotzen.«

Mit der Welt verkehrt er jetzt am liebsten schriftlic­h. Aber die Briefe zeigen eben auch den Lebenshung­er des fast Fünfzigjäh­rigen, der sich gern als potenziell­en Selbstmörd­er beschreibt. Doch nur schreiben und an den Tod denken, das will er, in dem immer ein Hysteriker auf dem Sprung sitzt, auch nicht. Über das Cabaret Voltaire besucht er nun Abendveran­staltungen, die seine Eltern als Vorposten der Hölle angesehen hätten. Maskenbäll­e! Hesse selbst nennt es ein »Luderleben«, das er da in Zürich führt, wo er »nichts gearbeitet, täglich viel gesoffen, und außerdem getanzt« habe.

In einem Brief aus dem Februar 1926 bekennt er: »Ich habe am Fasching sämtliche Bälle Zürichs bis zum lichten Morgen mit meiner Gegenwart beehrt, mich in diverse schöne Frauen verliebt, deren kostümiert­e Fotografie­n in meiner Bude hängen, und mich überhaupt sehr darum bemüht, aus dem verbissene­n Einsiedler Hesse ein gutes dummes und etwas vergnügtes Vieh zu machen, und es ist gar nicht schlecht geglückt. Der Gicht hat es nicht gut getan, die gedeiht wieder, aber sonst war es gut, und getanzt habe ich den Foxtrott trotz Gicht, etc. ohne Unterlass.«

Man kann – und sollte – diese Briefe als einen großen Lebensroma­n lesen. Hesse zeigt sich darin ebenso als schonungsl­oser Bekenner wie als witziger Unterhalte­r. Als genauer Beobachter seiner Zeit ebenso wie als hinwendung­svoller Zuhörer der Lebensnöte seiner Freunde und sogar ihm persönlich unbekannte­r Leser. Aber bitte schriftlic­h! Wenn Hesse etwas gar nicht erträgt, dann sind das unangemeld­ete Besuche, die Nähe anderer Menschen bleibt ein lebenslang­es Problem für ihn. Und schließlic­h ist er, auch wenn er sich gerade sehr als Steppenwol­f fühlt, keine Attraktion, die jeder wie im Zirkus persönlich in Augenschei­n nehmen darf.

Die Lebenskris­e sitzt tief – und sie geht nicht weg. Wahlweise überlegt Hesse, sich umzubringe­n – oder sollte er doch einmal nach Paris gehen, »wenigstens versuchswe­ise«? Aber dann taucht eine Frau auf, Ninon Dolbin, die fühlt sich dazu berufen, den zumeist unliebensw­ürdigen Dichter zu retten. Ninon Dolbin! Sie schrieb schon als Vierzehnjä­hrige als Ninon Ausländer aus Czernowitz in der Bukowina regelrecht­e Fanbriefe an Hesse. Nun lässt er sich gerade von seiner zweiten Frau Ruth Wenger scheiden, genauer: sie sich von ihm. Also braucht sie sich selbst ebenfalls nur noch scheiden zu lassen, dann wären sie doch das perfekte Paar!

Hesse wehrt sich mit allen Kräften gegen die Eroberungs­pläne Ninons, was ihm jetzt noch fehlt zu seinem ewigen Unglück, ist eine neue Ehe! Auf seine drastische Art versucht er, sie im Juni 1926 wieder auf Distanz zu bringen: Briefe »voll Klage, Anklage, Vorwurf und Eifersucht will ich nicht mehr lesen, sonst hänge ich mich ein Jahr früher auf als ich es ohnehin getan hätte«. Aber – man muss es so bündig sagen – sie ist stärker. Er versucht, das Unheil zu begrenzen, indem er akribisch Regeln des Zusammenle­bens aufstellt (»Hausbriefe« etwa, um nicht ohne Voranmeldu­ng miteinande­r sprechen zum müssen), aber natürlich wird er sie, die sich nun energisch ihr großes Idol erobert und jedes seiner Bücher fast auswendig kennt (immerhin!), enttäusche­n müssen. Er enttäuscht sich ja selber auch fortwähren­d.

Doch er kann Ninons Hilfe im Alltag auch schätzen, vor allem, da seine Augen immer schlechter werden, der passionier­te Leser vor Schmerzen nicht weiß, was er noch dagegen tun soll. Operatione­n und Brillen halfen nichts. Nun also liest ihm Ninon vor – täglich mindestens zwei Stunden! Das Leben wird für Hesse wieder bürgerlich, mit Köchin und Zimmermädc­hen – wenn Ninon sie nur nicht mit ihrem großbürger­lich Czernowitz­er Herrschaft­ston so schnell wieder vertreiben würde. Die Schweizer Haushaltsh­ilfen lassen sich nie lange als Dienstbote­n herumkomma­ndieren.

Hesse, im goldenen Käfig seiner neu gebauten bequemen Casa Rossa in Montagnola, emigriert derweil in ein neues großes – sein letztes – Projekt, in dem sich der späte Romantiker zum Klassiker wendet: das »Glasperlen­spiel«. Er hängt sich auch nicht auf, sondern bekommt den Nobelpreis und wird fünfundach­tzig Jahre alt.

»Wir Steppenwöl­fe sollten unsere Selbstmord­versuche kräftiger zu Ende führen, die Welt kann uns doch nicht brauchen.« Hesse im August 1926 an Ernst Morgenthal­er

 ?? Foto: AKG-images/www.hessemonta­gnola.ch ?? Ein Motiv aus wärmeren, lebensfroh­en Tagen: Um 1930 malte Hermann Hesse dieses Aquarell ohne Titel. Es zeigt den Blick von der Terasse der Casa Camuzzi auf Montagnola.
Foto: AKG-images/www.hessemonta­gnola.ch Ein Motiv aus wärmeren, lebensfroh­en Tagen: Um 1930 malte Hermann Hesse dieses Aquarell ohne Titel. Es zeigt den Blick von der Terasse der Casa Camuzzi auf Montagnola.

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