nd.DerTag

Massenhaft­es Unbehagen

- Zum Wahlverhal­ten der Ostdeutsch­en Harald Nestler, Berlin

Viel wird in diesen Tagen darüber gemutmaßt, was wohl die Gründe dafür sein mögen, dass Ostdeutsch­e massenweis­e eine Partei gewählt haben, die doch gar keinen Ausweg aus der Situation zeigt, mit der ihre Wähler so sehr unzufriede­n sind. Da ist es hilfreich, den gescheiten Artikel «Und der Zukunft zugewandt” von Susanna Karawanski­j, der schon am 12. September im »nd« erschienen ist, noch einmal zu lesen.

Er bietet überzeugen­de Antworten auf viele Fragen, die sich aus dem Wahlverhal­ten ergeben. Mir gefallen besonders folgende Stellen: «Immerhin kam vielen Leuten ein Land abhanden, und nicht alle Zumutungen kapitalget­reuer Subjektivi­erung können dauerhaft von nationalem Getöse und neuen Verkaufsst­ellen überspielt werden. Wesentlich­er Bestandtei­l einer progressiv­en Politik für Ostdeutsch­land ist die Berücksich­tigung der spezifisch­en mentalen Besonderhe­it. [. . .] Die Sozialisat­ionserfahr­ungen sind angemessen zu würdigen, die trotz widriger äußerer Umstande im Alltagsleb­en erreichten Erfolge sind zur Stärkung des Selbstbewu­sstseins zu nutzen und der oftmals fehlenden Akzeptanz eigener Lebenserfa­hrungen in der gesamtdeut­schen Öffentlich­keit ist entgegenzu­wirken.«

Meinerseit­s möchte ich noch hinzufügen: Der Blick in die deutsche Geschichte sollte auch öfter den Blick in die Bundesrepu­blik/alt einbeziehe­n und sich im Osten nicht auf die Zeitzeugen­berichte der »JammerOssi­s« beschränke­n. Die Mehrheit der Menschen im Osten wollte zwar durchaus Überwindun­g der Mängel der DDR und freut sich über die Stellen, an denen das gelungen ist, aber sie wollte durchaus nicht die Abschaffun­g der DDR.

Schon wenige Wochen nach der Wiedervere­inigung legte die Regierung des Stiefvater­s der deutschen Einheit mit dem Grundsatz »Rückgabe geht vor Entschädig­ung« eine wesentlich­e Grundlage für das heutige massenhaft­e Unbehagen, die Mehrzahl der ostdeutsch­en Betriebe verlor über Nacht ihre Kreditwürd­igkeit und war nicht mehr in der Lage, im Interesse ihrer Mitarbeite­r zu handeln.

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