Massenhaftes Unbehagen
Viel wird in diesen Tagen darüber gemutmaßt, was wohl die Gründe dafür sein mögen, dass Ostdeutsche massenweise eine Partei gewählt haben, die doch gar keinen Ausweg aus der Situation zeigt, mit der ihre Wähler so sehr unzufrieden sind. Da ist es hilfreich, den gescheiten Artikel «Und der Zukunft zugewandt” von Susanna Karawanskij, der schon am 12. September im »nd« erschienen ist, noch einmal zu lesen.
Er bietet überzeugende Antworten auf viele Fragen, die sich aus dem Wahlverhalten ergeben. Mir gefallen besonders folgende Stellen: «Immerhin kam vielen Leuten ein Land abhanden, und nicht alle Zumutungen kapitalgetreuer Subjektivierung können dauerhaft von nationalem Getöse und neuen Verkaufsstellen überspielt werden. Wesentlicher Bestandteil einer progressiven Politik für Ostdeutschland ist die Berücksichtigung der spezifischen mentalen Besonderheit. [. . .] Die Sozialisationserfahrungen sind angemessen zu würdigen, die trotz widriger äußerer Umstande im Alltagsleben erreichten Erfolge sind zur Stärkung des Selbstbewusstseins zu nutzen und der oftmals fehlenden Akzeptanz eigener Lebenserfahrungen in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit ist entgegenzuwirken.«
Meinerseits möchte ich noch hinzufügen: Der Blick in die deutsche Geschichte sollte auch öfter den Blick in die Bundesrepublik/alt einbeziehen und sich im Osten nicht auf die Zeitzeugenberichte der »JammerOssis« beschränken. Die Mehrheit der Menschen im Osten wollte zwar durchaus Überwindung der Mängel der DDR und freut sich über die Stellen, an denen das gelungen ist, aber sie wollte durchaus nicht die Abschaffung der DDR.
Schon wenige Wochen nach der Wiedervereinigung legte die Regierung des Stiefvaters der deutschen Einheit mit dem Grundsatz »Rückgabe geht vor Entschädigung« eine wesentliche Grundlage für das heutige massenhafte Unbehagen, die Mehrzahl der ostdeutschen Betriebe verlor über Nacht ihre Kreditwürdigkeit und war nicht mehr in der Lage, im Interesse ihrer Mitarbeiter zu handeln.