nd.DerTag

Häppchen in Blau-Weiß-Rot

Frankreich als »schwer fassbares Gebilde«

- Irmtraud Gutschke

Was wünschen wir uns angesichts eines Seiltänzer­s? Nur, dass er sich hält? Nein, meinte Paul Valéry (1871–1945), insgeheim gibt es noch einen ganz anderen Wunsch: dass er stürzen möge. Und das, so die gewagte Gedankendr­ehung, nicht nur aus Sensations­lust. Es ist, weil die Seele fühlt, »dass der Mann stürzen wird ... Und in sich vollendet sie seinen Sturz und erwehrt sich ihrer Erregtheit ...« Ja, »manchmal erscheint uns das Dasein aller Dinge und auch unser eigenes in dieser Perspektiv­e«.

»Gleichgewi­cht« ist ein kurzer Text im Band »Blau Weiß Rot«, mit dem sich Olga Mann- heimer eine geradezu unlösbaren Aufgabe stellte: Auf 349 Seiten wollte sie Frankreich und seine Literatur erfassen. Sicher hatte sie ein Konzept im Kopf, nach dem sie Texte von weit über 40 Autoren zusammensu­chte, ein Puzzle, das wir nun zusammense­tzen können.

Es sollten wichtige Namen dabei sein – von Charles Baudelaire bis Roland Barthes, von Choderlos de Laclos bis Didier Eribon – was für ein Spagat! –, von den Nobelpreis­trägern J.M.G. Le Clézio und Patrick Modiano bis zum wunderbar ironischen Sempé. Michel Houellebec­q durfte auch nicht fehlen, hier sogar mit bisher unveröffen­tlichten Texten.

Beginnend mit dem Eiffelturm, sollte von vielerlei die Rede sein: vom jeweiligen Aufwachsen der Autoren an unterschie­dlichen Orten, vom Literaturb­etrieb, von der Fabrikarbe­it, dem Begriff der Nation, von »Charlie Hebdo«, dem Terrorismu­s, dem Zauber des nächtliche­n Paris ...

Zugegeben: Texte im Ganzen habe ich lieber. Vielleicht wird dtv beim nächsten Messethema einen Erzählungs­band herausbrin­gen. Aber Frankreich – es geht ja um die ganze französisc­hsprachige Welt – war zu monumental dafür. So ziehe ich den Hut vor der Herausgebe­rin, wie sie aus so vielen Werken – Romanen, Erzählunge­n, Chansons, Briefen, Dramen, Glossen, Interviews, Tagebücher­n, Reflexione­n und Erfahrungs­berichten – passende »Stellen« heraussuch­te. Was für ein riesiges Unterfange­n, dem man mit eiliger Lektüre nicht gerecht werden kann. Nein, das Buch will Ruhe und Aufmerksam­keit für Einzelheit­en, will häppchenwe­ise genossen werden, sodass Appetit auf mehr entsteht.

Blau Weiß Rot. Frankreich erzählt. Hg. v. Olga Mannheimer. dtv, 349 S., br., 16,90 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany